Männer aus Ostdeutschland: Mann, oh Mann!
Die meisten AfD-Wähler im Osten sind männlich. Was ist ihr Problem? Auf Spurensuche bei den Vätern, Söhnen und Enkeln der DDR.
Neben vielen Überraschungen aus der Wundertüte Kapitalismus gibt es in meinen Erinnerungen an die frühen 90er Jahre auch diese wiederkehrende Erzählung, die mich rückblickend unheimlich ermüdete. Vor allem Väter- oder Ziehväter, auch Lehrer oder Nachbarn, viele von ihnen hatten die erste Hälfte ihres Lebens in der DDR verbracht, erzählten dann von Arbeitsbiografien, die quasi über Nacht entwertet wurden, von neu gefundenen Jobs jenseits der eigenen Qualifikationen und Interessen, die anstrengten. Es war die Rede von verlorenen, weil an Westdeutsche rückgeführte Grundstücke, von Wendehälsen, die jetzt im Kapitalismus Geschäfte machten, von Westdeutschen, die mit erhobenem Zeigefinger darüber richteten, wie DDR-BürgerInnen in der SED-Diktatur gelebt hatten.
Bei fortschreitender Unterhaltung war das Feindbild meist schnell ausgemacht: Besserwessis. Fast immer gipfelten die Unterredungen in einer Art Schlusspunkt, dem „Bei uns war auch nicht alles schlecht!“-Satz. Auch Frauen sagten diesen Satz, doch wirkten sie dabei weniger angegriffen.
Ostmänner: Sie haben mich großgezogen, mich begleitet, geprägt, gefordert. Mit ihnen habe ich das Kinderzimmer und das Badezimmer geteilt, lustige Geburtstage gefeiert und schöne Urlaube unternommen – vor zwei Jahren habe ich einen Mann aus Ostdeutschland geheiratet. Dass sich einige dieser Herren, wenn auch nicht aus meinem engen Umfeld, nun auf die Seite von Demokratiefeinden und Rassisten schlagen, schmerzt mich. Was ist los? Wir müssen reden!
Schlägt die Verunsicherung auf den Magen?
Den einen Ostmann gibt es nicht. Auch nicht den ostdeutschen AfD-Wähler. Und doch gibt es in Ostdeutschland viele Männer, die AfD wählen: in Sachsen 33 Prozent, in Brandenburg 29 Prozent, in Thüringen 28 Prozent. Unter den Frauen ist der Anteil viel geringer.
Viele ostdeutsche Männer fühlen sich nach eigener Einschätzung krank, sagt eine Langzeitstudie des Max-Planck-Instituts (1990 bis 2013). Beurteilten die befragten Männer im Alter von 20 bis 59 Jahren ihre Gesundheit unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung noch deutlich positiver als Frauen, nahmen die gefühlten Gesundheitsunterschiede immer weiter ab, bis sie 2013 unter denen der Frauen lagen. „Es ist gut möglich, dass die politischen und sozialen Veränderungen seit der Wende besonders viel Stress für Männer im Osten bedeuteten“, sagt Sozialwissenschaftlerin Mine Kühn. Bekannt sei, dass anhaltende wirtschaftliche Unsicherheiten wie Arbeitslosigkeit zu ungesundem Gewohnheiten wie Alkohol- oder Zigarettenkonsum führen.
War es die wirtschaftliche Verunsicherung der Nachwendejahre, die den ostdeutschen Männern nach wie vor auf den Magen schlug? Haben viele die privaten und beruflichen Umbrüche auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution nicht verdaut?
Ein bürgerlicher Biertisch in Dresden
Unterwegs in Dresden, dort, wo im Oktober 2014 erstmals Pegida-Anhänger mit wehenden Deutschlandfahnen durch die Innenstadt marschierten. Es ist Spätsommer, kurz vor den sächsischen Landtagswahlen. Die warme Abendluft hat viele Städter in die bürgerlichen Traditionslokale an das Elbufer gezogen. So wie die Männer, die hier im Körnergarten, einem der spätestens seit Uwe Tellkamps „Der Turm“ berühmten bürgerlichen Biertische der Republik vergnüglich beieinandersitzen.
Der eine, ein Handwerker, Anfang 60, aus dem thüringischen Eisfeld, erzählt, dass er rückwirkend Grundsteuer für sein Eigenheim zahlen soll. „Hundert Euro mehr, auch für das letzte Jahr“. – „Das ist ungerecht“, sagt er, deshalb wähle er AfD. Gegen Flüchtlinge habe er nichts, „nur bekommen die das gleiche Geld wie ich nach 45 Arbeitsjahren.“ Vom Staat fühle er sich unverstanden und ungerecht behandelt, sagt der Mann. Dass sich Politiker für seine Probleme interessierten, könne er sich nicht vorstellen. „Das ist vorbei“, sagt er.
Der gebürtige Dresdner am Nebentisch ist 60 Jahre alt und gelernter Werkzeugmacher. Seinen Beruf hat er vor Jahren aufgeben müssen, um seine kranke Frau zu pflegen. „Ich bin besorgt um mein Land, um die Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder“, sagt er. 1989 sei er hier in Dresden auf die Straße gegangen, um sich aus einer Diktatur kommend für eine Demokratie einzusetzen.
Das aber, was er gerade erlebe, das sei nicht mehr demokratisch. Die Medien würden die Menschen „in Gut und Böse“ einteilen, sagt er, der früher CDU wählte. „In einer Demokratie müssen Meinungen abgeglichen werden, aber wir dürfen nicht mehr sagen, was wir wollen.“ – „Wir“, sagt der Mann, er redet sich immer mehr in Rage, „sind 2015 als Bürger dieses Landes nicht gefragt worden, als Migranten und Flüchtlinge kamen.“ Er habe Verständnis für Flüchtlinge aus Kriegsländern, aber: „Was hat uns 2015 gebracht?“. Er antwortet selbst: „Unsicherheit und Terrorismus.“ Bevor die Männer aufbrechen, sagen sie noch: Die AfD sei nur ein Vehikel, um Dampf abzulassen. „Uns geht’s ja gut“.
Moralische und soziale Werte wurden aberkannt
Der Hallenser Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz, der in seinem Bestseller „Der Gefühlstau“ bereits 1990 psychische Folgen der Wende bei den Ostdeutschen diagnostizierte, kennt diese Art der Empörung aus seiner Praxis. Über die vielen AfD-WählerInnen in Ostdeutschland sagt er: „Das sind keine Nazis, sondern verunsicherte und kritische Menschen, die mit ihrem Kreuz bei der AfD ihren Protest zum Ausdruck bringen möchten.“ Maaz geht noch weiter: Eine Auseinandersetzung mit den Inhalten der Partei würde helfen, „die Projektion auf die AfD zu entzaubern“. Dazu passt vielleicht, dass er 2017 zusammen mit anderen den Aufruf „Charta 2017“ unterzeichnete, in dem zur Frankfurter Buchmesse vor einer „Gesinnungsdiktatur“ gewarnt wurde.
Der Analytiker sagt, dass die Lebens- und Integrationsleistung der Ostdeutschen von den Westdeutschen nicht anerkannt worden sei und ihre sozialen und moralischen Werte sogar aberkannt wurden. Dieser Ärger artikulierte sich in einem Gefühl: „Wir haben kein gemeinsames neues Deutschland.“ Hinzu kamen konkrete Erfahrungen existentieller Unsicherheit.
Die Soziologin Cornelia Koppetsch, die Mitte des Jahres das Buch „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“ veröffentlichte, sieht die AfD nicht als ostdeutsches Phänomen, selbst wenn sie dort die meisten Wählerstimmen erhalten würde. Die AnhängerInnen der Rechtspopulisten, so Koppetsch, kämen vielmehr aus allen Milieus, verbinden würde sie das Gefühl, VerliererInnen zu sein. Über männliche AfD-Wähler aus bürgerlichen Gruppen, sagte sie im Deutschlandfunk Kultur: „Wir haben enttäuschte Familienernährer, die sich in ihren Leitbildern des Familienernährers und den selbstverständlichen Erwartungen an die Privilegien, die daraus erwachsen, enttäuscht sehen.“ Entweder, so Koppetsch weiter, „weil sie keine Alleinverdiener mehr sind oder weil Frauen mittlerweile auch ganz gut allein zurechtkommen“.
Denkt man Koppetschs These weiter, könnten sich viele ostdeutschen Männer also gleich doppelt entwertet fühlen – in Bezug auf die Lebensleistungen seit der Wiedervereinigung wie auch hinsichtlich eines sich ändernden Rollenbildes als Folge veränderter Lebensformen in der globalisierten Welt.
Ein Macher für die Demokratie
Es gibt aber auch Ostmänner, die die Krisenerfahrung der Neunziger zu Machern machte. Den 1980 in Parchim geborenen Lars Tschirschwitz zum Beispiel. Während die Jüngeren den Osten häufig verlassen haben, ist Tschirschwitz geblieben. Bis auf ein Jahr Schüleraustausch in Oklahoma hat der 39-Jährige sein Leben in Mecklenburg-Vorpommern verbracht. Aus Überzeugung und weil er, der passionierte Angler, das flache Land mit den vielen Seen und Feldern und den Menschen, die beim Sprechen schnell auf den Punkt kommen, liebt.
Seit vier Jahren arbeitet der promovierte Historiker im Demokratieladen, einem Treffpunkt der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommerns, der zur Diskussion politischer und gesellschaftlicher Themen einlädt, wie zum Wahlsieg der nationalkonservativen PiS-Partei im Nachbarland Polen, das nur 50 Kilometer weiter beginnt.
Dass sich Tschirschwitz hier an diesem Ort derart stark für die Demokratie einsetzt, hat mehrere Gründe. Schon in der Schule, erzählt er, seien ihm rechte wie linke Parolen „dieses Nachgeplappere“, suspekt gewesen. Auf seinem Gymnasium, damals im mecklenburgischen Sternberg, habe es nur eine Handvoll Nazis gegeben, „an der benachbarten Real- und Hauptschule gehörte Nazisein zum Mainstream“. Er selbst habe sich „nicht für den Nazikram interessiert, sondern für Geschichte“.
Im Studium dann zunehmend für das Leben im real existierenden Sozialismus der DDR, auch ausgelöst durch etliche Streitgespräche mit den Eltern. Tschirschwitz’ Mutter, eine ehemalige Staatsbürgerkundelehrerin, und der Vater, ein Ingenieur und Parteifunktionär, mussten nach der Wiedervereinigung beruflich wie privat von vorn beginnen. Die Neugier und die kritischen Nachfragen des Historikersohns, der die politische Vergangenheit seiner Eltern im Arbeiter-und-Bauern-Staat verstehen wollte, schmerzte beide Seiten. Doch brachten die Gespräche die Familie auch zusammen.
Eine Art „Remmidemmi-Phase“
Dass so viele Männer aus seiner Vätergeneration bei den Landtagswahlen AfD wählten, überrascht Tschirschwitz nicht. „In den letzten dreißig Jahren hatten die Männer aufgrund des Drucks auf dem Arbeitsmarkt kaum Zeit und Kraft, um über ihr Leben nach dem Systemumbruch zu reflektieren“, sagt er. „Erst jetzt im Rentenalter kommen sie dazu, die Dinge zu verarbeiten.“ Teile seiner Elterngeneration würden sich gerade in einer Art zweiten Pubertät, einer „Remmidemmi-Phase“, befinden, in der es auch darum gehe, Aufmerksamkeit zu bekommen. Der AfD komme dabei die Rolle der „Kostenlos-Opposition – des Tabubruchs ohne direkte Konsequenzen“ zu.
Er aber wolle sich nicht als Jammerossi begreifen. Er sieht viel Positives am Ostdeutschsein: etwa den Vorsprung an Reflexion über den Sozialismus, über die Manipulierbarkeit jüngerer Menschen in der totalitären DDR, aber auch in den teils extremistischen Jugendsubkulturen der Nachwendezeit – über den Umgang mit Veränderungen im Allgemeinen.
Ostmänner in Dresden und Anklam: Einige, vor allem die Älteren kurz vor der Rente, scheinen dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution noch immer nicht richtig in der Bundesrepublik angekommen zu sein. Stattdessen zirkulieren enttäuschte Erwartungen an das wiedervereinigte Deutschland, Verletzungen wegen fehlender gesellschaftlicher Wertschätzungen und auch ein antiquiertes Männerbild, das in der globalisierten Welt seine Gültigkeit verliert.
Andere Ostmänner, eher die jüngeren, begreifen es als Chance, in zwei politischen Systemen groß geworden zu sein. Was die einen als Identitätskrise erleben, verstehen die anderen als Identitätsgewinn.
Zeit für eine neue Erzählung
Und zwar zu Recht, denn was wir endlich brauchen, ist ein neues ost-westdeutsches Selbstbewusstsein, das lange vor 1989 beginnt und das ostdeutsche Eliten schafft, um die Demokratie in der Stadt und auf dem Land mitzugestalten. Was dabei wenig hilfreich ist, ist die moralische Keule der Mehrheitsgesellschaft – alle ostdeutschen AfD-Wähler sind Nazis –, die die Menschen an die Rechtspopulisten verloren gibt, ohne die jeweiligen Gründe dieser Protesthaltung zu kennen.
Es braucht auch einen Ort der Aufarbeitung, einen bundesdeutschen Resonanzraum, der den Unmut vieler Ostdeutscher, gerade der Ostmänner, nicht reflexartig abwehrt, sondern zur Kenntnis nimmt, aushält und vielleicht sogar anerkennt.
Es ist an der Zeit für eine neue Erzählung, meine Herren, für eine andere Sprache jenseits von Wut und Ressentiments. Wir sollten zuhören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind