Machtwechsel in Großbritannien: Jubel in Rot
Nach einer historischen Wahlnacht herrscht in London Freude über Labours Wahlsieg. Nun beginnt die harte Arbeit.
Hier wird kein Fußballspiel übertragen, sondern hier wartet man voller Spannung auf die ersten Ergebnisse der Parlamentswahl vom 4. Juli. Überall im Vereinigten Königreich gibt es an diesem Donnerstagabend ähnliche Veranstaltungen. Die Atmosphäre ist geladen, so als warte man auf eine neue Mondlandung. Irgendjemand ruft „Fuck the Tories!“.
Als ein Bild von 10 Downing Street erscheint, kommt sogar abfälliges Geschrei aus allen Ecken, ebenso bei einer Aufnahme von Nigel Farage beim Eisessen. Ein Video von Keir Starmer erhält Beifall. Dabei hat die eigentliche Wahlnacht noch gar nicht begonnen.
Punkt 22 Uhr schließen die Wahllokale und in derselben Sekunde erscheint die gemeinsame Wahlprognose der TV-Sender auf der Großleinwand: 410 Sitze für Labour – eine gigantische absolute Mehrheit.
Empfohlener externer Inhalt
„Endlich die Konservativen los“
Die weiteren Zahlen gehen im ohrenbetäubenden Jubel unter. „Nach vierzehn Jahren sind wir endlich die Konservativen los geworden“, erklärt die 29jährige Isabel Beaumour in einer Gruppe von Jubelnden schließlich, als man wieder ein Wort verstehen kann. Sie freut sich vor allem über das Ende der Tories, weniger über den Sieg Labours, sagt sie dazu.
In einer anderen Ecke spricht der 33-jährige Chris Norris von Hoffnung. Er hofft, dass jetzt eine Zeit anbricht, in der Menschen sich gegenseitig unterstützen.
Knapp fünf Kilometer quer durch die Stadt in der Nähe des Westlondoner Bahnhofs Paddington geht es im Kellerraum eines Pubs ruhiger zu. Von hier aus beobachtet „Black Politicos“, ein Netzwerk von schwarzen Politikexpert:innen, die Wahlnacht. Sie diskutieren eifrig miteinander. Andre, ein 26-jähriger Buchhalter aus Croydon im Süden Londons, spricht von einem begrüßenswerten Regierungswechsel. Aber ohne Überzeugung.
Empfohlener externer Inhalt
Andre ist zum Beispiel skeptisch, ob die Verstaatlichung mancher öffentlicher Dienste wie des Energiesektors ein Erfolgsrezept ist, und nennt das britische Gesundheitssystem als Beispiel, wo derartiges nicht gut laufe. Er selbst tendiert zu den Grünen, er arbeitet mit grünen Unternehmen.
Auch die 26-jährige Anwaltsgehilfin Sola Ajayi – sie betont, dass sie mit Menschenrechten arbeitet – ist keineswegs außer Rand und Band. Sie sagt, dass Labour nicht unbedingt die Interessen vieler Schwarzer treffe: sie verweist auf Palästina und auf die schwarze Labour-Abgeordneter Diane Abbott, die darum kämpfen musste, in ihrem Wahlkreis wieder antreten zu dürfen.
„Starmers dünne Labour-Versprechen haben uns verunsichert“, sagt sie. Das bedeute aber nicht, dass sie für die Tories sei, auch wenn da „People of Colour“ mit an der Macht waren. Auch Sola tendiert eher zu den Grünen. Aus taktischen Gründen hat sie in ihrem Wahlkreis Honchurch östlich von London dann doch Labour gewählt, um einen Sieg der Tories zu verhindern.
„Labour war jetzt die bessere Option im Vergleich zum Tory-Bürgerkrieg, mit Brexit, Liz Truss und Partygate“, glaubt demgegenüber David Omojomolo. Der 32-jährige Ökonom hofft auf Verbesserungen im Gesundheitswesen. Aber auch er findet, dass schwarze Wähler:innen größtenteils nicht ernst genug genommen werden. „Sie werden in einen Topf geworfen, als hätten alle die gleiche Meinung.“
Labour-Martinis zum Sonderpreis
Wieder in einer anderen Ecke der Londoner Innenstadt feiern in einer Bar die Gäste von „Labour List“, einem Magazin von und für Labour-Basisaktivisten. Zwischen roten Luftballons und ein paar britischen Papierfähnchen hängt auch hier eine große Leinwand. Die Nacht ist fortgeschritten, immer wieder trudeln neue Ergebnisse aus einzelnen Wahlkreisen ein. Der Tory-Absturz bestätigt sich, Labours Vorsprung ist ungebrochen. Die Stimmung ist bestens.
Unter Spiegelkugeln mit Disco-Beleuchtung tanzen Leute zu lauten Hits, an der Bar gibt es „Labour Martinis“ zum Sonderpreis. Jedes Mal, wenn wieder ein Wahlkreisergebnis mit einem Labour-Sieg an der Leinwand erscheint, stoppt die Musik, und man hört mit lautem Jubel die Übertragung der Zahlen.
Die Labour-Aktivisten Petra Underwood, Alaina Khan und Rouben Bouchard sind alle 21 Jahre alt und alle überglücklich. Dieser Sieg sei „die Stimme unserer Generation“, meinen sie. Aber waren Starmers Wahlversprechen nicht zu dünn? „Nein!“, glaubt Petra. „Boris Johnson versprach die Welt und gab den Menschen falsche Hoffnung. Ich glaube, dass die Labourstrategien ziemlich radikal sind, aber kommunikativ nicht deutlich genug gemacht werden.“
Es sei außerdem verdammt harte Arbeit gewesen, erzählt sie. Ein Jahr lang half sie im Nordlondoner Tory-Wahlkreis Finchley & Golders Green der Labourkandidatin Sarah Sackman freiwillig, „jedes Wochenende!“ wie sie betont. Es hat sich gelohnt, wie sich später heruasstellen wird: Der Sitz fällt in dieser Nacht an Labour.
Rouben aus Bristol ist ebenfalls außer sich vor Begeisterung. Einzig der Erfolg von Reform UK dämmt die Freude für ihn etwas. Selbst einige seiner Freunde hätten Reform gewählt, gesteht er, „weil sie niemanden mehr trauten“, sagt er, als verstehe er es irgendwie.
Erinnerung an Tony Blairs Wahltriumph
Ein paar Tische weiter sitzt der 46-jährige Matt Willey. Er kann weiter zurückblicken als die drei 21-Jährigen. 2010 kandidierte er in Surrey Heath im Süden Englands, dem Wahlkreis des langjährigen Tory-Ministers Michael Gove, für Labour und wurde Dritter. Jetzt verlieren die Konservativen auch diesen Wahlkreis, wenngleich an die Liberaldemokraten. Im gesamten Südosten Englands ist von der einstigen Tory-Dominanz so gut wie nichts übriggeblieben.
„Es fühlt sich fast an wie 1997“, erinnert sich Matt Willey an Tony Blairs Wahltriumph, als er selbst noch ganz jung war und frisch für Labour arbeitete. Auch damals sei es darum gegangen, nach Jahren der Vernachlässigung zu beginnen, das Land wieder aufzubauen. „Die Tories mussten diesmal verlieren, denn sie müssen endlich ernsthaft darüber nachdenken, was gemäßigte rechte Politik ist“, findet er.
Für Labour geht es jetzt darum, bessere Gesundheitsversorgung und andere Dienstleistungen zu liefern, setzt Matt Willey fort und erläutert: „Das bedeutet nicht unbedingt, mehr Geld auszugeben, sondern man muss die Dinge einfach anders und effizienter machen. Und dafür sind jetzt die richtigen Leute an der Macht“. Er verweist auf die voraussichtliche zukünftige Finanzministerin Rachel Reeves und freut sich auf eine Regierung von „Erwachsenen“, der aber noch schwere Arbeit bevorstehe.
„Anders als 1997 steht heute viel mehr auf dem Spiel, wenn es die Regierung nicht richtig hinkriegt“, warnt Willey und ist dennoch froh, dass es endlich so weit ist. Da wird er wieder von Geschrei und Jubel unterbrochen. Wieder hat Labour den Tories einen wichtigen Wahlkreis abgerungen.
Die Scheinwerfer strahlen rotes Licht auf die Spielkugeln. Es fühlt sich nach mehr an als eine Mondlandung. Scheinbar ist eine riesige Delegation von roten Planeten mitten in Westminster am Ufer der Themse gelandet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen