Lockdown in Chinas Metropole Shanghai: Zwei Tüten Chips gegen Kohl
Der Lockdown in Schanghai hat den Alltag auf das Notwendige reduziert. Das Tauschgeschäft ist zurück. Die stärkste Währung: Gemüse.
Fast sämtliche der über 26 Millionen Bewohner Schanghais befinden sich derzeit im Lockdown – manche seit einigen Tagen, andere bereits seit über zwei Wochen. Doch trotz der Ausgangssperren steigen die Coronazahlen weiter: Am Sonntag meldeten die Behörden 8.226 Infektionen im gesamten Stadtgebiet, wenn auch die allermeisten von ihnen als „asymptomatisch“ gelistet werden.
Doch aufgrund Chinas rigider „Null Covid“-Strategie dürfen die Menschen derzeit nur zum Massentest kurz auf die Straße, ansonsten bleiben sie in ihren Apartmentanlagen weggesperrt. Und wer sich mit dem Virus ansteckt, wird in Isolationszentren abtransportiert, wo Tausende Infizierte in unterkühlten Hangarhallen lagern. Mehr als spartanische Betten, tägliche Essensausgaben und ein paar „Heilkräuter“ kann man ihnen dort nicht bieten.
Auch für den Rest der Bevölkerung ist der Lockdown eine staatlich angeordnete Ohnmacht, denn die Versorgung mit dem Allernötigsten hängt nun von Lieferpaketen der Regierung ab. Diese kommen jedoch nicht überall ausreichend an.
Essensvorräte gehen aus
„Es ist Tag 16 von unserem Lockdown in Schanghai und Essen ist das derzeit Wichtigste in den Köpfen der Menschen“, berichtet Jared Nelson, ein Anwalt. Auf seinem persönlichen Twitter-Account schreibt er vom derzeit tristen Alltag: Liefer-Apps seien die einzige Möglichkeit, um an Gemüse oder Fleisch zu kommen. Doch die Onlinedienste sind heillos überlastet, wie Nelson schreibt: „Gestern bin ich um 6 Uhr morgens aufgestanden, um eine Bestellung aufzugeben – aber nichts war verfügbar. Heute bislang dasselbe Resultat.“
Es wirkt absurd: Menschen mit einem sechsstelligen Jahresgehalt sorgen sich über zur Neige gehende Essensvorräte. Andere Anwohner hingegen posten stolz – und voller Dank an die Lokalregierung – auf den sozialen Medien von ihren frisch gelieferten Essensrationen: Karotten, Tomaten, manchmal auch Meeresfrüchte sowie Fleisch.
Dennoch kursieren im Internet immer mehr Videos, in denen sich der angestaute Frust entlädt. „Wir wollen essen!“, rufen die wütenden Anwohner einer Schanghaier Wohnanlage im Chorus. Die Aufnahme, mit dem Smartphone aus einem Fenster gefilmt, löschten die Zensoren schnell aus dem chinesischen Netz.
Dort kursiert derzeit auch eine Notiz der Behörden, die vor Lebensmittelvergiftungen warnt. Einige Anwohner hatten in Schanghai Pflanzen entlang von Verkehrsstraßen geerntet – offenbar in der fälschlichen Annahme, dass es dabei sich um Lauch handeln würde.
Scharfe Kritik kommt auch aus der EU
Und erstmals seit 2020 zeichnet sich erneut ab, dass die offiziellen Coronadaten wohl nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Laut einer Recherche des Wall Street Journal haben sich etliche Mitarbeiter und Senioren in einem Schanghaier Altenheim mit dem Virus angesteckt. Zeugen berichten von mehreren Toten. In den offiziellen Statistiken tauchen sie jedoch nicht auf.
Für den größten Aufschrei sorgten jedoch mehrere Videoaufnahmen aus einem Covidkrankenhaus für Kinder: Darin sind etliche Babys in Gitterbetten zu sehen, die vom Personal in weißen Schutzanzügen umhergeschoben werden. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, wurden offenbar mehrere Familien unter Zwang von ihren covidinfizierten Kindern getrennt. In einem Fall war das Neugeborene keine 60 Tage alt. Der französische Generalkonsul hat daraufhin ein Schreiben aufgesetzt, in dem er – stellvertretend für EU-Mitgliedsstaaten – die Regierung dazu auffordert, die grausame Praxis zu beenden.
Doch eine generelle Lockerung der Maßnahmen wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Erst am Samstag besuchte Chinas Vizepremierministerin Sun Chunlan den Coronahotspot Schanghai. Bei ihrem Inspektionsbesuch sagte sie der Presse, man werde „unbeirrt“ an der „Null Covid“-Strategie festhalten. Sie erwarte von den Behörden „rasche“ Maßnahmen, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern