Lockdown in Berlin-Neukölln: Muße statt Müll
Plötzlich war es in meiner Straße wieder schön: Kein Müll, kein Gegröle, kein Urinieren am Kitagartenzaun. Über externe Effekte eines Businessmodells.
U nd plötzlich war die Weserstraße wieder schön. An einem herrlichen, sonnigen Spätnachmittag muss ich plötzlich mitten auf dem Bürgersteig stehen bleiben, den ich auf dem Heimweg normalerweise nur noch mit gesenktem Kopf betrete, um nicht den sinnlosen Konsum und die dumpfen Pinten zu sehen, die blöden Touristen, die jedes Graffito fotografieren, und die E-Roller, die quer über dem Trottoir stehen.
Aber auf einmal war wieder alles wie früher, als hier noch nicht der Airbnb-Mob Einzug gehalten hat. Vor den Cafés stehen ein paar Tische herum, manche sind besetzt, viele nicht, und fast fühle ich mich versucht, mich irgendwo dort dazu zusetzen, wo ich seit zehn Jahren keinen Kaffee mehr getrunken habe, obwohl ich jeden Tag vorbeigehe.
Ich persönlich werde keine der Kaschemmen vermissen, die in meiner Nachbarschaft „hausgemachte Infusionen“ und spanische Tapas aus biologischem Anbau, luftgetrockenen Wagyu-Burger vom brandenburgischen Landbüffel und mundgeblasene Tiroler Speckknödel angeboten haben. Und die ganzen Läden, die ohne einen Mantel aus Gastro-Lyrik einfach Junkfood über die Theke gereicht haben oder schlichte Bierschwemmen waren, auch nicht.
Seit über einem Jahrzehnt betreiben diese Läden ein Geschäft, das auf einem Prinzip beruht, welches in der Wirtschaftswissenschaft als „Externalitäten“ bekannt ist. „Externe Effekte“, so steht es im Internet, „sind die Kosten, die in der Produktion oder beim Konsum entstehen, jedoch nicht beim Verursacher anfallen, sondern bei Außenstehenden.“ Auf die Weserstraße in Neukölln herunter gebrochen bedeutet das: Wir füllen die Leute ab. Nachher kotzen sie vor eurer Haustür, grölen vor dem Schlafzimmerfenster eurer Kinder oder pinkeln an den Zaun vom Kitagarten.
Niemand von den Imbissen, Spätis und Kneipen, die bis vor Kurzem den Bürgersteig mit Tischen vollgestellt haben, als ob der ihr Privateigentum wäre, hat jemals eine Weinbuddel oder einen Pizzakarton aufgelesen. Wer sich beschwerte, bekam zu hören, dass man ja umziehen könne, wenn es einem hier nicht passt.
Unzeitgemäß wie ein SUV
Als meine kleine Nachbarschaftsinitiative vor zwei Jahren bei einer Aktion mit Kreidespray auf den Bürgersteig malte, wo man eigentlich als Fußgänger, Rollstuhlfahrer und Kinderwagenschieber unbehindert Durchgang haben müsste, statt um Bierbänke und Stehtische zu navigieren, riefen die Weserstraßen-Wirte die Polizei (!), die mit zwei Peterwagen mit Blaulicht auftauchte und Anzeigen gegen uns aufnahmen. Der Chef vom „Silver Future“, der sich in der taz als Hüter eines denkmalschutzwürdigen „Safe Space“ für die LGBT-Community aufspielt, gehörte damals zu den lautesten Schreiern.
In diesem Fall würde ich mich ein einziges Mal darüber freuen, wenn der Markt Angebote bereinigt, die offenbar unter den gegenwärtigen Umständen so unzeitgemäß sind wie Geländewagen von VW. Und bitte darum, dass zur Verfügung stehende Steuermittel nicht für die Rettung eines obsoleten und nachbarschaftszerstörenden Businessmodells verwendet werden. Sondern für ein Wiederansiedlungsprogramm, das die schmerzlich vermissten Schneider, Schuster und Nachbarschaftsbäckereien zurückbringt.
Zurzeit sitzen am Abend in der Dämmerung ein paar Nachbarn auf dem Bordstein und quatschen. Wenn sie sich noch angewöhnen würden, die Verpackung ihres Junkfoods nicht einfach hinter sich zu werfen, könnte das alles eigentlich so bleiben und Corona hätte auch etwas Gutes bewirkt.
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