Liz Truss könnte bald Briten regieren: Sie will die Leute machen lassen
Liz Truss wird kommende Woche wohl zur Chefin der britischen Konservativen und zur Premierministerin gekürt. Kann sie das Land aus der Krise führen?
Das Rennen war eigentlich schon gelaufen, als Liz Truss und Rishi Sunak am Mittwochabend im Londoner Wembley-Stadion zu ihrem letzten Wahlkampfduell aufeinandertrafen. Am übernächsten Tag um 17 Uhr würde die Frist ablaufen, bis zu der die geschätzt 160.000 Mitglieder der britischen Konservativen ihre Briefwahl- oder Onlinestimmen für die Nachfolge des scheidenden Parteichefs und Premierministers Boris Johnson abgegeben haben müssten. Die Umfragen waren eindeutig: Truss führt vor Sunak mit rund zwei zu eins.
Entsprechend selbstsicher trat die 46-Jährige auf, die zurzeit noch britische Außenministerin ist. Truss sprach von bevorstehenden „schweren Zeiten“ und wischte Fragen des Moderators Nick Ferrari vom Londoner Stadtradio LBC, ob sie einen neuen Dienstwagen anschaffen oder die von Boris Johnsons Ehefrau erworbenen vergoldeten Tapeten in der Dienstwohnung in 10 Downing Street auswechseln werde, als lästige Ablenkung beiseite.
„Ich glaube nicht, dass ich Zeit haben werde, über Tapeten nachzudenken“, erwiderte Truss sichtlich genervt. „Sollte mir die Ehre widerfahren, unsere Premierministerin zu werden, werde ich mich auf Energiepreise für Verbraucher konzentrieren, wie wir die britische Wirtschaft voranbringen und wie wir die Warteschlangen im öffentlichen Gesundheitsdienst bewältigen. Nicht auf das Auto, in dem ich sitze.“
Für die Partei und das Land
Für Rishi Sunak, den 42-jährigen ehemaligen Finanzminister, war dieser Auftritt schon ein Abschied. Er ließ sich von seinen Anhängern mit „Rishi, Rishi!“-Rufen feiern; er bedankte sich bei seinen Eltern, die mit grauen Haaren und feuchten Augen im Publikum saßen.
Er wedelte eifrig mit den Händen als Vermarkter in eigener Sache und betonte doch am Ende, dass Truss und er sich in viel mehr Dingen einig seien als uneinig. „Und ich meine nicht nur unsere gemeinsame Liebe für Whitney Houston und Taylor Swift. Wenn das alles vorbei ist, werden wir zusammenkommen, für die Partei und das Land.“
Revolution als Begleitmusik
Dass Liz Truss das Lied „Change“ von Taylor Swift für ihren Einzug ins Stadion gewählt hatte, mag man als Spitze gegen ihren Rivalen vermerken – „And it’s a sad picture, the final blow hits you / Somebody else gets what you wanted again“, beginnt das Lied. Gespielt wurde, als die Ministerin in Blau zu blauem Licht und frenetischem Applaus auf die Bühne stieg, allerdings nur folgender Ausschnitt: „Because these things will change / Can you feel it now? / These walls that they put up to hold us back will fall down / It’s a revolution, the time will come / For us to finally win.“
Auch das ist, bei Lichte betrachtet, ziemlich erstaunlich. Die Konservativen sind in Großbritannien seit 2010 an der Regierung. Liz Truss bekleidet seit 2012 Ämter als Staatssekretärin oder Ministerin, sie ist trotz ihrer relativen Jugend Großbritanniens dienstälteste Ministerin. Aber sie wählt Parolen über Wandel und Revolution als Begleitmusik. Alles soll sich endlich ändern – so inszeniert die Favoritin von Großbritanniens Regierungspartei ihren eigenen innerparteilichen Wahlkampf mitten im Hochsommer.
Schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten
Es ist nicht das erste Mal. Nachdem die Briten am 23. Juni 2016 für den Brexit stimmten, trat Premierminister David Cameron zurück. Seine Innenministerin Theresa May folgte ihm nach, ihre Amtszeit währte keine drei Jahre. Sie erklärte ihren Rücktritt im Mai 2019, nachdem sie mit ihrem Brexit-Abkommen im Parlament dreimal durchgefallen war. Die Konservativen hoben den Brexit-Star Boris Johnson ins höchste Amt. Er stolperte nach drei Jahren über seine eigene Sorglosigkeit und Überheblichkeit und die Geringschätzung der eigenen Partei und erklärte in diesem Juli seinen Rücktritt.
Nun wählen die Konservativen also ihren vierten Regierungschef in Folge. Er – oder sie – schafft vielleicht nicht einmal drei Jahre. Spätestens im Januar 2025 sind Neuwahlen fällig und es beginnt gerade Großbritanniens schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, mit zweistelligen Inflationsraten und explodierenden Energiepreisen.
Auch May und Johnson hatten sich einst als Verkörperung des Neuanfangs inszeniert. Theresa May wollte nach Jahren der harten Sparpolitik die soziale Ader der Konservativen wiederfinden. Boris Johnson wollte nach Jahren des Chaos den Brexit vollenden und die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen armen und reichen Landesteilen angehen. Und jetzt sagt Liz Truss: „Wir können nicht weitermachen wie bisher, wir müssen die Dinge anders machen.“
Frauenfeindlichkeit unter Konservativen
Truss und Sunak galten beide als Säulen der Regierung Johnson. Liz Truss ist Außenministerin, davor war sie Handelsministerin, in Sachen Ukraine und Brexit zeigt sie Entschlossenheit. Rishi Sunak wiederum war als Finanzminister bis zu seinem Rücktritt im Juli der Architekt der Corona-Rettungspakete für die Wirtschaft und der Entlastungspakete in der aktuellen Energiekrise. Die konservative Parlamentsfraktion hat in den Abstimmungen um Johnsons Nachfolge im Juli immer Sunak an die Spitze gesetzt, Truss schob sich erst in der fünften und letzten Runde auf Platz zwei.
Viele Abgeordnetenkollegen halten sie für eine ehrgeizige, sich selbst überschätzende Karrieristin, was allerdings wohl auch mit der Frauenfeindlichkeit unter konservativen Männern zu tun hat.
Es genügt nicht
Sunaks Bilanz kann sich sehen lassen. Er führte 2020 ein Kurzarbeitergeld ein, er erhöhte 2021 die Sozialversicherungsbeiträge zur Refinanzierung der Gesundheitsausgaben, und im Mai 2022 erfand er eine Übergewinnsteuer für Energiekonzerne sowie Entlastungen für die Bevölkerung in einem Ausmaß, wie es in Deutschland erst ansatzweise diskutiert wird: 400 Pfund (465 Euro) Energiebeihilfe pro Haushalt; dazu 650 Pfund (750 Euro) für die acht Millionen ärmsten Haushalte, die Sozialleistungen beziehen; dazu eine Aufstockung der bestehenden Winterbeihilfe für Rentner um 200 Pfund (230 Euro) auf dann 500 Pfund; zusätzlich 150 Pfund (175 Euro) für Bezieher von Schwerbehindertenbeihilfen. Die Kosten von 21 Milliarden Pfund werden größtenteils durch Kredite gedeckt.
Aber so sehr die Regierung sich abmüht, es genügt nicht. Der staatliche Energiepreisdeckel, den die britische Regulierungsbehörde Ofgem alle sechs Monate neu festlegt, stieg bereits im April von 1.277 auf 1.971 Pfund pro Jahr und wird im Oktober auf 3.549 angehoben – fast eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahresniveau. Experten halten eine weitere Verdoppelung für möglich, in Zukunft soll der Preisdeckel alle drei Monate angepasst werden. Ein Vorschlag der Labour-Opposition, den Preisdeckel einfach einzufrieren, findet in der Öffentlichkeit breite Unterstützung, die Regierung lehnt das aber ab.
Steuern senken
Was wird Liz Truss machen? Sie hat konkrete Ankündigungen in diesem Politikbereich bisher vermieden. Wirtschaftspolitisch scheint sie vor allem die Maßnahmen Rishi Sunaks rückgängig machen zu wollen. Sunak will in erster Linie das Haushaltsdefizit verkleinern, Truss die Steuern senken.
Die neue Übergewinnsteuer will Truss wieder abschaffen, die erhöhten Sozialversicherungsbeiträge wieder senken, die im April in Kraft getretene Anhebung der Unternehmenssteuer von 19 auf 25 Prozent wieder rückgängig machen, ebenso eine neu eingeführte EEG-Umlage auf Strompreise. Sie verspricht Steuerentlastungen von 34 Milliarden Pfund (knapp 40 Milliarden Euro) pro Jahr. Eine entsprechende Senkung der Staatsausgaben zieht sie nicht in Betracht, höchstens „Effizienzsteigerungen“ in der Staatsverwaltung. Die Steuersenkungen sollen die Wirtschaft ankurbeln, sich dadurch selbst finanzieren und Innovationskräfte freisetzen.
Ein neoliberales Programm
Es ist ein klassisches neoliberales Programm, das ihr Kontrahent Sunak für inflationstreibenden Unsinn hält. Aber Liz Truss teilt einen alten Wunsch ihrer Partei: nach der wirtschaftlichen Entfesselung eines „Global Britain“, gegründet auf der Zuversicht, dass das Land alles schaffen kann, wenn man die Leute nur machen lässt und die Bedenkenträger im Staatsapparat in die Schranken weist. Sie ist die Kandidatin der „Brexiteers“, für die Boris Johnson am Ende zu links war. Ihr Programm des Zurückdrängens des Staates knüpft an Margaret Thatcher an.
Heute kommt Liz Truss mit diesem Programm bei ihrer Parteibasis an. Bis zum Winter 2024 kann die Welt zwar eine andere geworden sein, aber Truss ist flexibel genug, sich dann ein neues Programm zu geben. Am Montagmittag wird bekannt gegeben, ob sie gewonnen hat. Wenn ja, wird sie am Dienstag mit Boris Johnson zur Queen auf deren Sommersitz Balmoral in Schottland fahren und das höchste Regierungsamt erhalten. „We never gave in“, endet Taylor Swifts Lied, mit dem Liz Truss ihren letzten Wahlkampfauftritt begleitete, „and we’ll sing hallelujah“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“