Literaturkritik: Sprengt Denkmäler, schreibt welche!
Die sackfreien Jahre: Die aktuelle Literatur ist auf keine schlichten Begriffe zu bringen, so frei ist sie. Aber was ist los mit der Literaturkritik?
Kleine Alltagsbeobachtung: Meinem Gefühl nach interessieren sich seit einiger Zeit komplett alle glühend für Literatur. „Sie sind also Lektor“, sagen die verschiedensten Leute irgendwo in einer Warteschlange oder auf dem Pannenstreifen oder mitten im dunklen Wald zu mir, sobald das Reden zufällig auf Bücher kommt. Dann machen sie kurz Pause, die Augen glitzern, und jedes Mal folgt der gleiche Satz: „Ich schreibe nämlich.“
In meinen Jahren als Lektor habe ich gelernt: Beim allgemeinen Schreibenwollen geht es auch darum, sich der eigenen Identität zu vergewissern, was gar nichts Neues und natürlich ehrenwert ist – und nie der ausschlaggebende Grund, aus dem Verlage sich für oder gegen Manuskripte entscheiden. Neu ist bloß, dass die Idee, selbst ein Buch zu schreiben, für immer mehr Milieus denkbar wird.
Das hat sicher etwas mit Vorbildern zu tun. Mit der zunehmenden Sichtbarkeit von Geschichten und Autor*innen, die sich den Kriterien und Traditionen jenes etablierten, weißen, heteronormativen Bildungsbürgertums entziehen, das auch 2021 noch den Großteil von Verlagswesen und Kritik ausmacht. Für jede nicht vollkommen abgehobene Position lautet in diesen Jahren eine zentrale Frage der Gegenwartsliteratur: Was für ästhetische Veränderungen bewirken derart massive gesellschaftliche Öffnungen?
Daran musste ich denken, als ich die, nun ja, Veränderungen gegenüber nicht gerade offenen Thesen des Münsteraner Literaturwissenschaftlers Moritz Baßler las. Seine gerade in der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik veröffentlichte lesenswerte und von SZ bis FAZ diskutierte Generalattacke lautet: Bei der gegenwärtig erfolgreichen Literatur gehe es keinen Millimeter mehr um die Hinterfragung und Verkomplizierung der Welt.
Künstlerische Freiheit oder Selbstvergewisserung?
Sondern um beschwerdefrei genießbare identitäre Zugehörigkeitsgefühle, von den Millionen kritiklos hingerissenen Leser*innen der Instagram-Gedichte Rupi Kaurs bis zur Weigerung woker Akademiker*innen, die postmoderne Komplexion eines David Foster Wallace auch nur aufzublättern.
Alle diese Identitätsbubbles täten letztlich nur so, als ob sie sich mit schwierigen Fragen und Formen auseinandersetzten. Die eigene Weltanschauung Herausforderndes käme aber literarisch schlicht nicht vor bei den „Themen und Problemen, für die sich die partikularen Gruppen interessieren (loss, trauma, abuse, Misogynie, Rassismus, Kapitalismus, Flucht)“ – alles stets zum Wohlfühlen „in der richtigen Weise und vor allem: von den richtigen Autorinnen!“.
Uff. Was für Sätze, darauf einen Schnaps. Statt darüber nachzudenken, welche ästhetischen Möglichkeiten demokratische Öffnungen nach sich ziehen, wie es sie in der Geschichte der Literatur immer wieder gegeben hat, erkennt Baßler unter dem Leseverhalten „partikularer Gruppen“ nichts als künstlerische Flachheit. Wann soll dieser kuschlig-identitätsstiftende Stumpfsinn eingesetzt haben? Philip Roth überführte 1969 in „Portnoys Beschwerden“ zu riesigem Applaus radikal einseitig jüdische Traumata in Fickfantasien.
Warum wirft Baßler dann exklusiv einem Gegenwartstext wie Olivia Wenzels unter anderem vom Rassismus erzählenden Roman „1000 Serpentinen Angst“ vor, in einer Szene Nazis nicht deep genug darzustellen? Baßler basht die ihm ebenfalls zu einseitigen Prenzlauer-Berg-Zerfleischungen der Romane Anke Stellings – aber warum soll allein das angeblich „Nichtidentitäre“ in den Himmel der Literatur führen? Können Leser*innen ab circa acht Jahren nicht mündig mit Schreibstrategien umgehen?
Ich fürchte, Baßlers symptomatisches Problem mit der Gegenwartsliteratur ist gar nicht die Literatur. Das Problem steckt vielmehr im Zustand ihrer Kritik, von den deprimierenden Oberlehrergehässigkeiten des „Literarischen Quartetts“ über die pseudomutig alle meistdiskutierten Romane des Frühjahrs ignorierende Liste des Preises der Leipziger Buchmesse bis zur höhnischen Weigerung von Teilen der Bachmann-Wettbewerb-Jury, sich mit einem „zu klugen“ Text der Autorin Heike Geißler auseinanderzusetzen.
„Kriterienkrise“ hat die Rezensentin Marlen Hobrack solche Fundamentalvernichtungen genannt, als sie darüber nachdachte, warum mehrere Rezensenten in einer Art aggressiver Arbeitsverweigerung über Karen Köhlers gleichnishaft ein Frauenschicksal behandelnden Roman „Miroloi“ urteilten, dieser sei „gar keine echte Literatur“.
Es sind die sackfreien Jahre der Kultur
In Wahrheit kaschiert das Abfertigen aktueller Texte als „kuschelige ästhetische Geschlossenheit von Angebot und Nachfrage“ (Baßler) oder kürzer: „Identitätskitsch“ (Klagenfurt-Juror Philipp Tingler) nur eines: Das Missbehagen etablierter Kritiker*innen darüber, dass ihre eigene wertgeschätzte Identität mit den zugehörigen ästhetischen Kriterien nicht die allgemeinverbindliche Messlatte darstellt.
Dafür spricht stark, dass Baßler in seinem Essay so bemüht wie mit dem Teddyautomaten-Greifarm einzelne Gegenwartstexte von dem von ihm so genannten „neuen Midcult“ aller vermeintlich identitären Wohlfühlliteratur ausnimmt: Sie wären aus nebligen Gründen in „Form und Kontext“ höherstehend – aha, okay.
So was Freies wie Ästhetik funktioniert leider im Jahr 2021 wie ein übles Machtritual, wie es die Bundesjugendspiele sind: Hohepriester verhängen Regeln, nach diesen Regeln wird sortiert, die versagenden Trottel kriegen bloß Teilnahmeurkunden hingeschmissen – und die bedeuteten schon damals im Sportunterricht in Wahrheit, dass die Sache ohne die eigene Teilnahme für alle anderen noch viel schöner wäre.
Es geht also um Ausschlüsse.
Die literaturkritische Überzeugung, dass allein man selbst sich nach tiefgründigen ästhetischen Maßstäben richtet, alle abgekanzelten Ästhetiken aber profan-stillose Politik treiben, ist selbst nichts anderes als eine zutiefst politische Handlung – die des Ausschließens.
Und die sich immer weiter öffnende aktuelle Literaturlandschaft widersetzt sich heftig wie nie dieser uralten Idee der Exklusivität. Es ist dieses Auseinanderklaffen von Kritikerköpfen und Textkörpern, das den seltsamen Umstand dieser Jahre erzeugt, eine viel interessantere Literatur zu haben als ein allgemeines Gespräch über sie.
Es sind die sackfreien Jahre der Kultur: Keine Säcke, wie etwa ich als Lektor, bestimmen mehr so einfach wie früher, welche Kunst in welchen Sack hineindarf und welche nicht. Was nicht bedeutet, dass all die für Kulturbetriebe notwendigen Figuren sich einfach auflösen. Sondern umgekehrt: In einer nun wirklich längst nicht mehr an die Codes einer einzigen Hochkultur glaubenden Kultur werden Lektorate, Rezensionen, wissenschaftliche Annäherungen überhaupt erst gut, wenn sie endlich auch von sich selbst sprechen – und ihre eigenen ästhetischen Positionen selbstkritisch benennen.
Je stärker sich die Gegenwartsliteratur auf allen Betriebspositionen erweitert, desto mehr Diskussionsbedarf besteht an jeder Stelle. Mein Lektorieren etwa kommt mir vom ersten Rein-gar-nichts-Verstehen bis zum Kommasetzungskorrigieren kurz vor Druck längst nicht mehr so vor, als wäre ich der Textboss, der ästhetisch irgendwas durchzupeitschen hätte, sondern als könnten alle beteiligten Seiten Dinge lernen.
Was wohl ähnlich für allgemeine kulturelle Diskussionen gelten könnte, nähert man sich ihnen ohne normative Gewalt. Nützlich wäre dazu vermutlich, die Literatur der Gegenwart mit ihr gegenüber aufgeschlossenen Begriffen zu beschreiben. Nennen wir ihre auffälligste Tendenz doch in Anlehnung an den US-Literaturwissenschaftler Mark McGurl: Kultureller Pluralismus.
Anders als beim alle Unterschiede zu einer einzigen mäßigen Pampe nivellierenden „Midcult“ steckt in dieser Perspektive drin, dass in der Gegenwartskultur viel Verschiedenes von vielen verschiedenen Standpunkten her zu entdecken ist – wenn man nur will. In der pluralen Gesellschaft diskutieren eben nicht partikulare Identitätsmobs ausschließlich ihr eigenes Rudel seligmachende Bücher. Es gibt eine Vielzahl zu entdeckender Positionen. Kultureller Pluralismus betont, ständig auf Schreibweisen stoßen zu können, die gerade eben nicht die eigenen Erfahrungen ausmachen.
Was jeder kurze Blick auf die Bestsellerlisten bestätigt. Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ erzählte aus Sicht von zwölf unterschiedlichen britischen Schwarzen Frauen. Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“ in Versform vom Leben einer französischen Widerstandskämpferin. Christian Krachts „Eurotrash“ von Problemen mit der Familie und dem Reichsein. Es wird viele Menschen geben, die zwei oder alle drei dieser Romane lasen.
Und es ist leicht zu benennen, was das wäre, wenn durch Raunen über den allzu banalen Erfolg „partikularer Gruppen“ „mit den richtigen Autorinnen“ die Idee entstehen sollte, dass nur der erste dieser drei Romane mit seiner Schwarzen Autorin, seinen Schwarzen Figuren und seinen Verhandlungen von Rassismus gar nicht für die gesamte Gesellschaft geschrieben wäre: Ausschließend, abwertend, rassistisch.
Florian Kessler ist Lektor im Carl Hanser Verlag.
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