: Links vom Wir-Gefühl
Machtkampf Lichtenberg ist eine Bastion der Linken, der größte Ortsverband Berlins. Doch im Gerangel um eine neue Bürgermeisterin ging die gute Stimmung flöten, Kandidatin Evrim Sommer wurde ausgebootet. Eine Suche nach den Ursachen
von Marina Mai
Eine kleine Kundgebung in Lichtenberg gegen die AfD. Eine Frau im Rentenalter hat Transparente mitgebracht. „Lichtenberg ist nicht völkisch“ und „Lichtenberg bleibt vielfältig“ steht etwa darauf. Ein Polizist liest gründlich die Transparente, ob nicht vielleicht etwas Verfassungswidriges darauf steht. Nein, alles in Ordnung. „Die Transparente habe ich selbst geschrieben“, erläutert ihm die Frau ungefragt. „In der Schreibschrift, die ich in der DDR als Lehrerin meinen Schülern vermittelt habe. Heute lernt man ja nicht mehr so schön schreiben“, bedauert die Frau, die sich als Mitglied der Linkspartei zu erkennen gibt. Der zwei Generationen jüngere Polizist guckt verdutzt. Mit der Bemerkung kann er nichts anfangen.
1.400 Mitglieder – der Lichtenberger Bezirksverband der Linken ist der größte in Berlin. Zwar sind die Zeiten vorbei, wo sie mit einer absoluten Mehrheit im Bezirksparlament saß; mit 30 Prozent ist die Linke aber stärkste Fraktion. Für das Abgeordnetenhaus holte sie fünf von sechs möglichen Direktmandaten. Lichtenberg ohne Linke, das ist undenkbar. Doch ein so großer Parteiverband steht auch in der Gefahr, sich mit sich selbst zu beschäftigen, eine Sprache zu sprechen, die außerhalb der Partei niemand versteht, ein Wir-Gefühl zu entwickeln, das andere ausgrenzt, einen Stallgeruch zu entwickeln, der woanders als unangenehm empfunden wird.
Evrim Sommer, bis vor einer Woche Bürgermeisterkandidatin, passte nicht so recht in dieses Wir-Gefühl. Die 45-jährige gebürtige Kurdin hat nie in der DDR gelebt, geschweige denn dort Schönschrift gelernt. Sie spricht eine einfache, bildhafte Sprache, die einfache Bürger und Parteimitglieder verstehen. Sie ist selbstbewusst, lacht gern, gilt als Frohnatur. Sie hat Menschen wie die neue Linken-Abgeordnete Ines Schmidt, eine frühere Straßenbahnfahrerin und BVG-Personalrätin, ermutigt, den Weg zur Berufspolitikerin zu gehen.
Bei der Wahl zur Bürgermeisterin ist Evrim Sommer vor anderthalb Wochen in zwei Wahlgängen in der BVV in geheimer Abstimmung durchgefallen. Ihr fehlten zehn bzw. elf Stimmen der rot-rot-grünen Zählgemeinschaft. SPD und Grüne erklärten, aus ihren Reihen seien keine Gegenstimmen gekommen. Sommer war sich sicher, dass die aus der eigenen Fraktion kamen. Öffentlich seien ihr aus ihrer eigenen Partei mangelnde Verwaltungserfahrung sowie „orientalische Machtgelüste“ unterstellt worden, sagt Sommer der taz. Sie verzichtete auf einen weiteren Wahlgang, schmiss auch ihr Amt als Bezirksvorsitzende hin. Ob sie sich aus der Politik zurückzieht, sei noch nicht entschieden. Zuerst will sie ein Buch über die Türkei schreiben.
Fremdelte die Partei mit ihrer Spitzenkandidatin ohne Stallgeruch? Die Frage stellte sich auch auf der Parteiversammlung am Wochenende. „Evrim Sommer stand in der eigenen Partei ein Jahr lang unter ständiger Kritik, ohne dass die Vorwürfe öffentlich ausgeräumt wurden“, so die Lichtenberger Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch, die sich nach Sommers Abgang entschied, noch einmal als Bezirkschefin zu kandidieren. Die Kritik an Sommer sei nicht immer offen und fair geäußert worden. Sie selbst sei auch nicht auf ihre Kritiker zugegangen.
Sommer, seit 1999 im Abgeordnetenhaus, war nie ein politisches Schwergewicht ihrer Fraktion. Das lag daran, dass ihr Fachgebiet, die Frauenpolitik, kein Kernressort ist. Daran, dass sorgsame Detailarbeit nie ihre Stärke war. Und daran, dass Sommer sich im extrem linken Flügel ihrer Partei verortet hat. Zweimal hatte sie die Silvio-Meier-Demo angemeldet. Das war unter Rot-Rot. 2009 flogen von den Teilnehmern Steine auf Polizisten. Der damalige Innensenator Ehrhart Körting von der SPD war außer sich und forderte den Koalitionspartner auf, sich von der Gewalt zu distanzieren.
Und dann war da noch die Schummelei um ihre Biografie. Sommer hatte sich im Abgeordnetenhandbuch 2015 als Historikerin eintragen lassen. Ihr Eintrag suggerierte, sie hätte bereits den Abschluss. Ihr Studium hat sie aber jetzt erst abgeschlossen. Sie hat eine große Dummheit begangen. Ob aus Eitelkeit oder aus mangelnder Sorgfalt, ist unklar. Sommer räumt keine Täuschung ein, nur eine missverständliche Formulierung.
Was letztlich hinter der Ablehnung der Kandidatin steht, die die erste kurdischstämmige Bürgermeisterin in Berlin hätte werden können, das will in der Linken niemand mehr abschließend beantworten. Auch das wird auf der Parteiversammlung klar.
Nach dem Wahldesaster und Sommers Rückzug ist die Stimmung bei der Lichtenberger Linken jedenfalls am Boden. So gab es auch keinen Applaus, als die Parteiversammlung mit Michael Grunst einen neuen Bürgermeisterkandidaten nominierte.
Der 46-jährige Verwaltungswirt war bisher Stadtrat im Nachbarbezirk Treptow-Köpenick, hat aber in Lichtenberg seit vielen Jahren seine politische Heimat. Am 15. Dezember muss er durch die BVV gewählt werden.
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