Linken-Politikerin über Zuwanderung: „Nicht nach Nützlichkeit auswählen“
Die Thüringer Fraktionsvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow will ein Gesetz für geregelte Einwanderung. Auch „Wirtschaftsflüchtlinge“ sollen davon profitieren.
taz: Frau Hennig-Wellsow, Sie haben zusammen mit fünf Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei ein Einwanderungskonzept vorgelegt. Ist man in der Linkspartei jetzt zu der Einsicht gelangt, dass die Forderung „Offene Grenzen für alle“ doch zu utopisch ist?
Susanne Hennig-Wellsow: Wir denken, politische Überschriften brauchen auch eine Untersetzung, und das sehr drastisch, wenn es um Regierungshandeln geht. In Thüringen, Berlin und Brandenburg müssen wir jeden Tag handeln. Wir haben in den letzten Monaten immer gegen Asylrechtsverschärfungen gestimmt. Ich glaube aber, dass von uns auch Antworten erwartet werden, wie wir uns Freizügigkeit, humane Flüchtlingspolitik und Einwanderungsrecht überhaupt vorstellen. Dieser Aufgabe wollen wir uns stellen.
Im Konzept heißt es: „Zuwanderung und Migration können sich nicht regellos vollziehen.“ Das ist doch eine Korrektur des Kurses „Offene Grenzen für alle“?
Nein. Davon rücken wir nicht ab. Aber offene Grenzen ergeben sich nicht einfach so.
Sie wollen, dass Leute einwandern, die hier arbeiten, studieren oder ein Ehrenamt ausüben möchten. Sie wollen die netten, die nützlichen Migranten reinlassen?
Im Gegenteil, wir denken vom Menschen her und nicht von seiner Nützlichkeit. Wir versuchen mit dem Einwanderungsgesetz, Einwanderung so breit wie möglich zu gestalten. Für uns ist der einzig relevante Anknüpfungspunkt die soziale Verankerung. Das ist zum Beispiel mit Ehrenamt gemeint.
Ist Ihr Ansatz da tatsächlich so weit entfernt von der Grünen-Talentkarte für Fachkräfte oder Studierwillige?
Uns geht es darum, dass jeder hier grundsätzlich leben kann und jeder eine Chance hat, einen sozialen Anknüpfungspunkt aufzubauen. Das machen Grüne und SPD nicht.
Wer würde bei der Linkspartei nicht reingelassen?
Menschen, die zu Spionagezwecken einreisen, eine Straftat begehen wollen, Waffen bei sich führen oder für Kriegsverbrechen verurteilt wurden. Auch wir sehen natürlich das Thema Sicherheit, wenn man Einwanderung gestalten will. Aber für uns steht das Vertrauen in den Menschen am Anfang und nicht das Misstrauen.
Jahrgang 1977, ist Landes- und Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in Thüringen. Die Diplompädagogin war in ihrer Jugend Leistungssportlerin (Eisschnelllauf). Seit 2004 gehört sie dem Thüringer Landtag an.
Abschiebung wird im Konzept als Ultima Ratio erwähnt. Die Linkspartei bekennt sich also zu Abschiebungen?
Das ist kein Bekenntnis zur Abschiebung. Aber tatsächlich werden auch wir feststellen, dass es Menschen gibt, die bei uns keine Zuflucht finden sollten. An erster Stelle steht für uns aber die Inklusion, das gemeinsame Wir derer, die hier leben.
Was ist mit Menschen, die hierherkommen und nur von Sozialleistungen leben und gar nicht arbeiten wollen?
Dieser Vorwurf trifft ja auch auf die übergroße Mehrheit der deutschen Hartz-IV-Empfänger nicht zu. Der Run auf Sozialleistungen, den man bei Rumänen und Bulgaren vermutete, hat sich ebenfalls nicht bestätigt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sein Zuhause und seine Familie verlässt, nur um am Rande des Existenzminimums in Deutschland auch nicht richtig leben zu können.
Ein Element Ihres Einwanderungskonzepts ist die Asylfrage. Sie wollen auch Menschen Asyl gewähren, die sich in wirtschaftlichen Notlagen befinden. Also für fast alle, die sich aus afrikanischen Ländern auf den Weg machen?
Das mag so sein. Wir wollen Fluchtgründe erweitern. Gleichzeitig sind viele Menschen, die aus Balkanstaaten zu uns kommen, aus sozialen Gründen unterwegs und wollen sich hier eine Perspektive aufbauen. Deshalb machen wir ja auch die zweite Schiene auf – die Zuwanderung über Einwanderung.
„Wirtschaftsflüchtlinge“ aus den Balkanstaaten könnten also künftig legal über das Einwanderungsgesetz einreisen?
Genau.
Moralisch mag das einwandfrei sein. Aber sehen Sie nicht den sozialen Frieden in Gefahr, wenn Hunderttausende billige und willige Arbeitskräfte kommen?
Ich denke, wir machen ein Angebot, das allen entgegenkommt. Die Menschen, die zu uns kommen, zahlen ja auch Steuern, und zwar mehr, als sie in Anspruch nehmen. Und sie generieren Wirtschaftswachstum, schaffen also auch Jobs. Und bezogen auf Deutschlands demografische Entwicklung und die Fachkräfteentwicklung haben wir Einwanderung dringend nötig.
Laut Bamf hatten die meisten Asylantragsteller des Jahres 2015 keinen hochwertigen Berufs- oder Bildungsabschluss. Sie stehen in Konkurrenz zu den einfach Gebildeten in Deutschland, die eh schon schwer Jobs finden und die die Linkspartei ja auch politisch vertreten will. Wie vermitteln Sie das Ihren Wählern?
Das Einwanderungsgesetz löst nicht alle Probleme, die dieser Staat hat. Und ein ungerechtes Bildungssystem, zu niedrige Mindestlöhne und unsichere Arbeitsplätze bleiben für uns auf der Tagesordnung. Aber der Ausschluss von Menschen wird den Konkurrenzdruck nicht verringern.
Ihre Parteifreundin, die Vizefraktionsvorsitzende Sevim Dagdelen, sieht das anders. Sie hat im April geschrieben: Deutschland brauche kein Einwanderungsgesetz, weil das Auslese und Lohndrückerei bedeute.
Ich teile die Auffassung von Frau Dagdelen in diesem Punkt nicht. Man kann natürlich Bewegungsfreiheit und offene Grenzen fordern. Man wird es aber nicht garantieren können, wenn man nicht auch die Gesetzgebung verändert. Dann haben wir die geltende Rechtslage, und die ist alles andere als liberal. Ich glaube, dass es innerhalb der Linkspartei durchaus Redebedarf gibt.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir haben einen Aufschlag gemacht und wollen Einwanderung aktiv diskutieren. Unsere Gruppe, also die sechs Fraktionsvorsitzenden, will nach der Sommerpause eine Konferenz organisieren und tiefer in das Thema einsteigen.
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