Leon Kahane über die Kunstszene: „Antisemitismus ist verbreitet“
Die Solidaritätsbekundungen von Kulturschaffenden mit der Hamas sind laut dem jüdischen Künstler Leon Kahane repräsentativ für den gesamten Diskurs.
wochentaz: Herr Kahane, leben Sie als Künstler noch in Tel Aviv?
Leon Kahane: Aktuell nur noch in Berlin. Ich habe mal eine Weile dort gelebt und auch als Pressefotograf gearbeitet. Aber meine Geschwister wohnen beide in Israel.
Jahrgang 1985, studierte nach einer Fotografie-Ausbildung Freie Kunst in Berlin und hat das „Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst“ mitgegründet. Eine seiner Installationen ist aktuell im Jüdischen Museum zu sehen.
Wie geht es denen?
Meine zwei Neffen sind jetzt als Reservisten an die Grenze zu Gaza eingezogen worden. Und meine Nichte ist mitten im Wehrdienst. Sie ist an der ägyptischen Grenze. Es sind Kids, die ganz bewusst darüber nachdenken, wie sich auch die Situation in Palästina verbessern könnte, keine Menschen, die einfach drauflos rennen würden. Natürlich geht das an mir überhaupt nicht spurlos vorbei. Und wenn ich in die sozialen Medien schaue, wird mir einfach schlecht.
Sie meinen die Berichte über Gräueltaten der Hamas?
Ich beziehe das auch auf die wohlwollenden Reaktionen auf den Terror. In der internationalen linken Kunst- und Kulturszene wurden die Morde der Hamas teilweise als legitimer Widerstand gerechtfertigt und Opfer des Terrors mit Häme überschüttet. Da wurde die Entmenschlichung vollendet. Es war das schlimmste Pogrom gegen Jüdinnen und Juden seit dem Nationalsozialismus. Die Taten und die weltweite Unterstützung empfinde ich als einen Angriff auf das zivilisatorische Prinzip.
Wie nehmen Sie die Reaktionen in Deutschland wahr?
Im deutschen Kontext war man zurückhaltender, vielleicht, weil man Angst hatte, dass es einem auf die Füße fällt. Aber viele verfallen hier in ihrer Argumentation in eine Regression.
Was verstehen Sie darunter?
Es meint einen kindlichen Rückzug auf eine Argumentation, nach der es keinen Unterschied zwischen den beiden Parteien gibt, weil überall Opfer zu beklagen sind. Es wird dann überhaupt nicht mehr nach der Motivation von Gewalt gefragt. Dabei macht es einen Unterschied, ob man versucht, zivile Opfer zu vermeiden oder sie das Ziel sind. Und, ob es eine Zivilgesellschaft gibt, die einfordert, dass SoldatInnen und PolizistInnen zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie Unrecht begehen.
Sie meinen Israel?
Ja, diese sehr aktive Zivilgesellschaft gibt es in Israel natürlich. Die Leute gehen auf die Straße, demonstrieren für Gleichberechtigung, kämpfen für Demokratie, sehen – zu Recht – in der aktuellen Regierung eine Gefahr für die offene Gesellschaft. Das ist quasi die eine Seite – die ja natürlich auch keineswegs gewaltfrei ist.
Und die andere Seite?
Auf der anderen Seite, der Seite der Hamas, sind zivile Opfer das erklärte Ziel der Gewaltaktionen. Ich würde sagen: Das Zivilisatorische an sich wird zum Ziel, die Moderne, die Aufklärung, das, was zunehmend abwertend als „westliche Kulturhegemonie“ bezeichnet wird, obwohl es dabei um die Grundlagen der allgemeinen Menschenrechte geht. Nur in dieser Logik können die zivilen Opfer als Feindbild eines autoritären Regimes legitimiert werden, nur so wird dieser Gewaltakt zu einem Moment der Revolution gegen die Unterdrückung.
Das müssen Sie erklären.
Die Geschichte der Moderne ist auch – nicht nur, aber auch – eine Geschichte des Judentums, und die Geschichte der Antimoderne ist immer eine Geschichte des Antisemitismus. Ich sage ganz bewusst Antimoderne und meine nicht den kritischen Ansatz, dass man mit Mitteln der Aufklärung die Schuldzusammenhänge der Moderne aufklärt. Sondern ich meine die Abwicklung der Aufklärung. Am Ende dessen steht dann nicht eine bessere Welt, sondern nur noch Autoritarismus. Wenn man eine Antimoderne mit modernen Mitteln erwirken will, dann ist man bei der Hamas.
Halten Sie die teilweise unterstützenden Äußerungen für die Gewalttaten der Hamas, die man in den sozialen Medien aus der internationalen Kulturszene beobachten konnte, für repräsentativ auch für die reale Welt?
Ja, sie bilden den Diskurs ab. Paradoxerweise führt diese Gewalt, dieses Pogrom, das wir am 7. Oktober gesehen haben, nicht dazu, dass in der internationalen Kulturszene darauf entsprechend reagiert wird. Im Gegenteil. Aber für mich ist das nicht überraschend.
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Wieso nicht?
Problematische Denktraditionen und auch Antisemitismus sind in der Szene auch nach dem Nationalsozialismus weit verbreitet. Wir haben es schon bei Joseph Beuys gesehen.
Was hat Beuys damit zu tun?
Für Joseph Beuys lagen die Ursprünge von Auschwitz in der Moderne, im westlichen Materialismus. Und er sagte auch: Moses war der erste Materialist. Für ihn waren die Juden also die Urheber ihres eigenen Schicksals. Dabei war Auschwitz das Ergebnis einer antimodernen, antisemitischen, völkischen, essenzialistischen Ideologie. Beuys teilte die Menschen auf, in intellektualistische und rationalistische „Westmenschen“ und in ursprüngliche authentische „Ostmenschen“ mit „altem Wissen“, einem „tiefen Seelengefühl“ und aufgeladen mit diesem ganzen anthroposophischen Mist. Leider haben wir so was auch letztes Jahr auf der Documenta 15 gesehen.
Wie hängt das zusammen?
Dieses dichotome Weltbild zeigte der Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi exemplarisch: eine Welt, aufgeteilt in einen paradiesischen Teil, wo die Menschen „ursprünglich“ und „authentisch“ leben, und einen verkommenen Teil, der als „zivilisiert“ oder „westlich“ beschimpft wird. Auf dem Banner, das dann ja auch Anlass der Kritik war, wird die westliche Kultur durch rauchende Schornsteine, Kriege, Geheimdienste repräsentiert. Und da ist ja auch was dran: Die Welt ist voller Konflikte. Pandemie, Wirtschaftskrise, Klimawandel, Rassismus, Imperialismus, Kriege – all das ist ja schwer zu ertragen.
Sollte da nicht auch die Kunst für eine bessere Welt eintreten?
Doch, absolut. Aber es geht in eine falsche Richtung, wenn eine Utopie sich aller Widersprüche zu entledigen versucht. Das Problem fängt dann an, wenn die Widersprüche der Welt, in die wir auch alle selbst verstrickt sind, simplizistisch gelöst und externalisiert werden. Das ist ein typischer Moment, wo der Antisemitismus sich bis zur Gewalt richtig entfesselt, denn Antisemitismus ist eine Kulturtechnik. Auf dem Banner von Taring Padi war dann der Jude der Urheber alles Bösen. Er steht noch hinter dem Teufel und manipuliert ihn.
Wie verbreitet ist dieses Weltbild in der Kunst?
Wir sehen einen enormen Zuwachs an essenzialistischer, identitärer Kunst. Oft wird das Indigene zum Gegenstand von Projektionen. Das geht einher mit der Überhöhung einer Idee von Ursprünglichkeit und Authentizität. Sehr viel wird über die Kategorie des „Volks“ verhandelt. Anstelle des Individuums tritt das Kollektiv: Wir sind, was wir sind, und das ist ungebrochen und unhinterfragbar. Ich glaube, das ist das, was gerade Deutsche attraktiv finden am Postkolonialismus, weil sie sozusagen ein Verantwortungsverhältnis nach außen verschieben.
Gerade im Kulturbetrieb kam es aber auch zu einer vermehrten Aufarbeitung der Kolonialgeschichte, der Hinterfragung der Provenienz von Ausstellungsstücken.
Ja, richtig so! Aber warum leitet sich daraus die Idee, die Überzeugung ab, man müsse den Holocaust in die Gewalttradition des Kolonialismus stellen?
Was meint das?
Dass Deutschland mit der Aufarbeitung des Holocaust einen zu eingeschränkten, „provinziellen“ Blick habe. Nun: Deutschland muss in der Aufarbeitung seiner Kolonialverbrechen einiges nachholen. Aber es gibt darüber hinaus die Forderung, den Holocaust nicht mehr als präzedenzloses Menschheitsverbrechen zu sehen, sondern als einen Genozid von vielen. So wie Antisemitismus dann auch zu einer Spielart des Rassismus erklärt wird. Da steht Auschwitz dann neben empörend falscher Migrationspolitik und neben dem Krieg in Gaza. In dieser Logik wird Geschichte umgeschrieben. Wie sich das auf die Gegenwart und sie Zukunft auswirkt, können wir gerade live miterleben.
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