Legalisierung von Cannabis: Sind bald alle dicht?
Die Ampelkoalition will Cannabis legalisieren. Während die einen vor Gefahren warnen, wittern andere ein Milliardengeschäft.
T obias Hellenschmidt friemelt einen Schlüssel in das Schloss an der Wand. „Waren Sie schon mal in der Psychiatrie?“, fragt er. „Ich meine, in der geschlossenen?“ Er entriegelt, drückt die schwere Tür auf. „Ich frage nur, weil Sie gleich sehen werden, wie kahl hier alles ist“, sagt er. „Lassen Sie sich davon nicht beirren. Das ist wirklich eine tolle Station.“
Hellenschmidt, Glatze, schwarzes Sakko, ist leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatriestation im Vivantes-Klinikum in Berlin-Friedrichshain. Wer hier landet, ist in der Regel zwischen 14 und 21 Jahre alt und schwer psychisch krank. In den allermeisten Fällen geht es um Psychosen, Manien, Persönlichkeitsstörungen und akute Selbstgefährdung. In einigen wenigen Fällen aber sind es „Entzugssymptomatiken bei Abhängigkeiten von psychotropen Substanzen“, die die jugendlichen Patient:innen in die Klinik führen. „Psychotrop“, der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet „auf die Seele wirkend“. Hellenschmidt verwendet ihn für harte Drogen, Cannabis, Alkohol und Nikotin.
Um die 300 Suchtpatient:innen durchlaufen seine Abteilung pro Jahr, die meisten davon allerdings auf der offenen Station. Auf die Seele von einem Viertel dieser Jugendlichen hat laut dem Psychiater vor allem eine Substanz gewirkt: Cannabis. Zwar sei auch sonst alles dabei, betont Hellenschmidt. „Heroin, Kokain, Alkohol, Benzodiazepine“ – ein verschreibungspflichtiges Medikament, das dämpfend wirkt – „aber fast alle, die zu uns kommen, konsumieren zusätzlich auch Cannabis.“
Ausgerechnet diese Substanz will die künftige Bundesregierung nun legalisieren. „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein“, heißt es im Koalitionsvertrag, den SPD, Grüne und FDP vor wenigen Tagen vorgelegt haben. Viel mehr als das steht zu dem Thema nicht drin. Das ist eine Absichtserklärung, aber noch lange kein Gesetz. Es fehlt ein Zeitplan, und so gut wie jedes Detail zu der Frage, wie die Legalisierung genau aussehen soll.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Sechzehn Jahre lang wirkte die Drogenpolitik der Bundesregierung wie betoniert. „Nur weil Alkohol gefährlich ist, ist Cannabis kein Brokkoli“ – dieses Bonmot der Bundesdrogenbauftragten Daniela Ludwig (CSU) wurde zur Chiffre dafür, dass sich mit der Union in Sachen Legalisierung ganz sicher nichts bewegt. Selbst das 2017 verabschiedete Gesetz, das die Abgabe von Cannabis als verschreibungspflichtiges Medikament vereinfachen sollte, kam nur deshalb zustande, weil Patient:innen gegen die Blockade der Bundesregierung klagten. Und CBD-Shop-Betreiber:innen, die CBD-Gras mit einem THC-Gehalt in fast homöopathischer Dosis vertrieben, wurden bis zuletzt strafrechtlich verfolgt.
Und jetzt, mit der neuen Regierung, soll plötzlich alles anders werden?
Seit in der öffentlichen Debatte angekommen ist, dass Grüne, FDP und SPD eine Legalisierung favorisieren, wurde viel vor Cannabis gewarnt. Es ergebe keinen Sinn, neben dem legalen, aber gefährlichen Alkohol die Tür für eine weitere „gefährliche und oft verharmloste“ Droge zu öffnen, sagte etwa Oliver Malchow, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in einem Interview. Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft pflichtete ihm bei.
Psychiater warnt vor Hirnschäden bei Jugendlichen
Cannabis sei nicht nur eine Einstiegsdroge, sondern wegen der Unkontrollierbarkeit der Zusammensetzung insbesondere für junge Menschen eine Gefahr. Auch einige Mediziner:innen stimmten zu. Regelmäßiger Cannabiskonsum sei gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden sehr gefährlich, erklärte etwa der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater und vehemente Legalisierungsgegner Rainer Thomasius. Die Gefahr an einer Psychose zu erkranken, erhöhe sich. Das habe eine 2019 in der Fachzeitschrift The Lancet Psychiatry veröffentlichte Studie gezeigt.
„Das stimmt“, sagt Psychiater Tobias Hellenschmidt und marschiert schnellen Schrittes über den quietschenden Krankenhausflur der Jungendpsychiatriestation. „Aber es stimmt nur bedingt.“ Zwanzig Plätze gibt es im Friedrichshainer Vivantes-Klinikum für Jugendliche mit Abhängigkeitserkrankungen. Fünf sind in der geschlossenen Abteilung, die restlichen in der offenen Station. Die Zimmer sind karg, ein Bett, ein Regal, viel weiße Wand. Was sich hier beobachten lässt, ist das Worst-Case-Szenario jugendlichen Cannabiskonsums.
In der Gemeinschaftsküche der offenen Station sind gerade ein paar Jugendliche zugange. Ein schlaksiger Junge, 14 Jahre alt, schwarzer Hoodie, ist bereit für ein kurzes Gespräch. Er sei wegen seines Cannabiskonsums hier, sagt er. „Auch wegen Opiaten, aber hauptsächlich wegen Cannabis.“ Mit 13 habe er begonnen zu kiffen. Von da an habe er immer so viel konsumiert, wie da gewesen sei. „Egal, ob das zwei Gramm oder 50 Gramm waren. Ich habe immer alles weggeraucht.“ Aus der Jugendhilfeeinrichtung, in der er sonst lebe, habe man ihn deshalb in die Klinik geschickt.
„Die am stärksten gefährdete Gruppe, eine Abhängigkeit zu entwickeln, sind Jugendliche, die psychisch erkrankt sind“, erklärt Hellenschmidt wenig später in seinem Büro. Das bedinge sich oft gegenseitig. „Nach allem, was wir wissen, ist Cannabis zwar eine Substanz, die bei sehr hohem regelmäßigen Konsum über längere Zeit schwere psychische Störungen wie Schizophrenie begünstigt und mitunter dazu beitragen kann, dass eine Psychose früher im Leben stattfindet.“ Bevor das passiere, müsse aber einiges zusammenkommen.
Hellenschmidt argumentiert sachlich, abwägend, wohl wissend, dass Wissenschaft selten einfache Antworten liefern kann, vor allem, wenn es um die menschliche Psyche geht. „Die Psychose betrifft immer nur einen kleinen Teil von Menschen, die wahrscheinlich familiär oder anderweitig vorbelastet sind“, sagt er. Schizophrene Patient:innen in einem Vorstadium der Erkrankung neigen oft zu hohem Cannabiskonsum. „Eine beginnende Psychose geht mit veränderter Selbst- und Fremdwahrnehmung einher“, sagt der Psychiater. „Da kann es sein, dass Patient:innen eine Substanz konsumieren, die sie beruhigt.“ Man könne nicht immer sagen, was zuerst da war – dafür seien die Zusammenhänge zu komplex.
Eindeutigere Studien als zum Thema Psychose gebe es in Bezug auf Gedächtnis, Schulleistungen und Intelligenz. „In einer Phase, in der die Gehirnentwicklung voll im Gange ist, können sich extern zugefügte Cannabinoide negativ auf Gedächtnis- und Lernleistungen auswirken“, sagt der Psychiater. Man könne deshalb davon ausgehen, dass Cannabiskonsum im jugendlichen Gehirn eigentlich immer schädlich sei.
Dennoch steigt der Cannabiskonsum von Jugendlichen seit Jahren kontinuierlich – auch trotz des bislang geltenden Verbots. Das zeigt die jährlich von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung veröffentlichte Drogenaffinitätsstudie. 2011 hatten nur 6,7 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren schon einmal Cannabis konsumiert. 2019 war es schon mehr als jeder zehnte.
Ob diese Zahlen mit einer Legalisierung steigen? „Das weiß niemand“, sagt Hellenschmidt.
Jedenfalls ist keine Substanz mit berauschender Wirkung in Deutschland seit Jahrzehnten so beliebt wie Cannabis – und das nicht nur bei Jugendlichen. Das Bundesgesundheitsministerium geht von insgesamt 3,11 Millionen Konsument:innen aus. Ob jemand dabei nur einmal an einem Joint gezogen hat oder täglich mehrere Gramm wegraucht, wird nicht erfasst. Klar ist aber: Der Anteil derjenigen, egal welchen Alters, die im selben Jahr irgendeine andere illegale Droge konsumierten, liegt deutlich darunter. Nicht jede Person, die kifft, greift automatisch zu Härterem.
Hinzu kommt: Nur ein Bruchteil aller kiffenden Menschen muss in Behandlung. Lediglich zwei Prozent benötigen eine ambulante Therapie, nur etwa ein Prozent eine stationäre. Auffällig ist allerdings: Die überwiegende Mehrheit der Cannabisabhängigen ist unter 30 und männlich. „Grob vereinfacht kann man sagen: Je älter man ist, desto weniger schädlich scheint Cannabiskonsum zu sein“, sagt Hellenschmidt.
Aber wie dafür sorgen, dass Jugendliche nicht kiffen?
Sie wie Kriminelle zu behandeln, helfe jedenfalls nicht, sagt der Psychiater. Er ist trotz aller Risiken für eine Entkriminalisierung der Substanz. „Dass jemand, der auf einer Party einen Joint konsumiert, deshalb nicht gleich seinen Ausbildungsplatz verliert, weil er vorbestraft ist, scheint mir sehr sinnvoll zu sein.“ Auch eine strenge Altersbegrenzung helfe vermutlich nicht viel. Auch deshalb, weil die Legalisierung nicht zwingend zu einem Ende der illegalen Schattenwirtschaft führt.
„Wenn bei einer Legalisierung ein bestimmter THC-Gehalt gesetzlich vorgeschrieben ist, dann wird es weiterhin illegale Produkte geben, die mehr THC enthalten“, gibt er zu bedenken. „Die werden wahrscheinlich auch billiger sein, weil die Besteuerung wegfällt.“
Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien steht zu diesen Fragen nichts. Hier kommt es also auf die Ausgestaltung der Gesetze an.
Wichtiger als Jugendschutz sei eine gezielte und auf bestimmte Gruppen zugeschnittene Prävention. „Warenkunde ohne Moral“, nennt Hellenschmidt das. „Man muss Jugendliche mit Wissen ausstatten, das ihnen im besten Fall zu einer aufgeklärten Entscheidung verhilft.“ Das sei im Grunde die einzige Chance.
Denn wenn es um den Genussmittelmarkt geht, sind Lobbyismus und Wirtschaftsinteressen nicht weit. Immerhin hier hat die Koalition vorgebaut. „Wir verschärfen die Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis“, lautet ein Satz im Koalitionsvertrag.
Einer der wichtigsten Lobbyisten in Sachen Cannabislegalisierung kommt allerdings nicht aus der Wirtschaft, sondern aus der Justiz. Es ist der 60-jährige Jugendrichter Andreas Müller, der seit 1997 am Amtsgericht Bernau nahe Berlin wirkt und sich unter anderem einen Namen mit besonders harten Urteilen für jugendliche Neonazis gemacht hat. „Mein Lebensinhalt besteht darin, eine andere Drogenpolitik herbeizuführen“, sagt Müller. Es klingt wie ein Scherz, wie vieles, was er in seiner knorrig-jovialen Art sagt. Aber es ist keiner.
Als die Grünen als Oppositionspartei schon 2015 und 2018 Versuche unternahmen, Cannabis zu legalisieren und einen Entwurf für ein Cannabiskontrollgesetz formulierten, schrieb der Richter daran mit. Anders als der Koalitionsvertrag regelt dieser Entwurf die Legalisierung bereits bis ins Detail. „Cannabis wird aus den strafrechtlichen Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes herausgenommen“, heißt es darin. Stattdessen werde ein strikt kontrollierter legaler Markt für Cannabis eröffnet.
„Um dieses Ziel zu erreichen, muss die gesamte Handelskette für Cannabis (Anbau, Großhandel, Import/Export, Einzelhandel) reguliert werden.“ Nach dem Gesetzentwurf der Grünen soll Volljährigen der Besitz von bis zu 30 Gramm Cannabis gestattet sein. Die Aufzucht von bis zu drei weiblichen, blühenden Cannabispflanzen wäre zudem im Eigenanbau erlaubt. Gekifft werden dürfte dort, wo auch geraucht werden darf. Für den Straßenverkehr würde analog der Promillegrenze ein Grenzwert für Cannabis eingeführt.
Die FDP, die sich ebenfalls seit Jahren für eine liberale Drogenpolitik stark macht, enthielt sich 2020 bei der Abstimmung. Der Vorstoß der Grünen kam nicht durch. Der Gesetzentwurf habe „erhebliche Mängel“, twitterte Wieland Schinnenburg, damals der Drogenpolitische Sprecher der FDP. Seine Partei habe mehrere Änderungsanträge gestellt. Die hätten die Grünen jedoch abgelehnt. Nun werden die Regierungsparteien einen Kompromiss finden müssen, wollen sie ihre Legalisierungspläne realisieren. Dass es überhaupt so weit gekommen ist, hat auch mit Andreas Müller zu tun.
„Das Thema Cannabis beschäftigt mich seit dem elften Lebensjahr“, sagt er ernst. „Mein Bruder hat gekifft, mein Vater hat gesoffen.“ Der Vater starb, der Bruder landete im Gefängnis. „Der war der Hascher, der Gammler, und ich konnte nicht verstehen, warum er stigmatisiert und kriminalisiert wird.“ Also habe er Jura studiert. Mitte der Neunziger wurde er Richter in Brandenburg.
Seit 2019 setzte er mehrere Verfahren wegen des Besitzes von geringen Mengen Cannabis aus und erklärte, dass er alle Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes in Bezug auf Cannabis für verfassungswidrig hält. Ein Befangenheitsantrag der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) gegen ihn wurde von zwei Instanzen abgelehnt.
Jugendrichter kämpfte für Legalisierung
Im April 2020 schickte er 140 Seiten Vorlage ans Bundesverfassungsgericht und forderte seine Kollegen auf, die Verfassungsmäßigkeit des Betäubungsmittelgesetzes in Bezug auf Cannabis zu prüfen. Eine Entscheidung steht aus. „Artikel 3 Grundgesetz: Gleichheitsgrundsatz“, sagt Müller. „Man darf sich betrinken in diesem Staat, bis zum geht nicht mehr, aber wenn man einmal am Joint zieht, oder eine geringe Menge Haschisch besitzt, dann wird man bestraft.“
Müller wird lauter. Artikel 2, Grundgesetz: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“, heißt es dort. „Die Behörden verfolgen aber regelmäßig Leute, nur weil sie mit einem anderen Genussmittel umgehen als mit Alkohol und Nikotin“, ärgert er sich.
Im März 2021 entdeckte er Twitter. Nach zwanzig Minuten habe er 700 Follower gehabt. Mittlerweile folgen ihm über 55.000 Menschen. „Ich habe gemerkt, dass man mit Twitter auch ein bisschen Politik machen kann“, sagt Müller. Kurz nach der Bundestagswahl startete er eine Social-Media-Kampagne. „Ich habe die Legalisierungsszene dazu aufgerufen, das Thema bei Twitter trenden zu lassen.“ Müller rief und der #weedmob folgte. Es erschienen unzählige Tweets mit Hashtags wie #richtermüller, #cannabislegalisierung und #LegalisierungJetzt. Zeitweise war die Legalisierung von Cannabis das bestimmende Thema in den sozialen Medien.
Auch als die Ampelparteien den neuen Koalitionsvertrag präsentierten, setzte Müller einen Tweet ab. „Heute vor 7 Jahren ist mein Bruder infolge einer unsäglichen Drogenpolitik gestorben“, schrieb er. „Zuvor von einem Amtsrichter wegen 2 Gramm zu 7 Monate auf Bewährung verurteilt. Ich versprach ihm am Grab, weiter für die Legalisierung und Rehabilitierung zu kämpfen. Er wäre heute stolz.“
Bei der Mary Jane, Deutschlands größter Hanfmesse, herrscht Ende Oktober Goldgräberstimmung. Ganze 220 Unternehmen stellen in einer Veranstaltungshalle an der Spree jede Menge Produkte rund um den Anbau und Konsum von Cannabis aus. Ein breites Sortiment, für das sich laut Veranstalter 25.000 Besucher:innen angekündigt haben.
Auch am Samstagnachmittag drängen sich die Cannabisfans durch die Gänge der Halle und inspizieren Rauchutensilien sowie CBD-Produkte und begutachten verschiedenes Equipment, das ihnen den Anbau leichter machen soll: Lampen, Lüftungen, Dünger, Bewässerungsanlagen – und sogenannte „Growboxen“; duschkabinenartige Gestelle mit Plastikhülle, in denen man unter LED-Beleuchtung, quasi „indoor“ Pflanzen züchten kann. Dass der Eigenanbau von Cannabis nach wie vor illegal ist, scheint hier kaum jemanden zu interessieren.
„Wir haben vor der Bundestagswahl auf unserer Homepage ein Tool angeboten, mit dem man sich über die Postleitzahl die jeweiligen Wahlkreiskandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien auswerfen lassen konnte“, sagt Hanfverband-Geschäftsführer Georg Wurth an seinem Stand. „Wir haben die Leute aufgefordert, ihren Wahlkreiskandidaten zu schreiben, dass sie von ihnen erwarten, dass Cannabis legalisiert wird, wenn sie in den Bundestag kommen.“ Dem Aufruf seien so viele Menschen gefolgt, dass der Hanfverband Beschwerden von einzelnen Kandidat:innen bekommen habe.
Wie es zu einem Verbot von Cannabis kam, wurde in der aktuellen Debatte hingegen kaum thematisiert. Einer, der sich mit dieser Frage beschäftigt hat, ist Sebastian Scheerer. Der 71-jährige Jurist und Soziologe war Professor für Kriminologie an der Uni Hamburg. Mittlerweile ist er emeritiert. Scheerer gehört dem „Schildower Kreis“ an, einem Expert:innennetzwerk, das sich seit Jahrzehnten für die Legalisierung von Drogen engagiert.
„Heute tut man so, als wäre die Prohibition alternativlos gewesen und das Beste, was man für die Volksgesundheit tun konnte, aber das ist erwiesenermaßen falsch“, sagt Scheerer am Telefon. „Gesundheitsargumente waren historisch meist nur Fassaden, hinter denen sich weniger edle Strukturen und Motive verbargen.“ Dann setzt er zu einem ausschweifenden Exkurs in die Geschichte an. Er berichtet von religiösen Kräften, sowohl in den arabischen Ländern als auch in den USA, die weder Alkohol- noch Cannabiskonsum gerne sahen. Und er berichtet von Kolonialherren, die den Konsum bei „Fremden“ zu unterbinden versuchten, obwohl oft dieselben Substanzen in der weißen Bevölkerung legal im Umlauf waren.
Auch die Alkoholprohibition in den 1920er Jahren habe in Bezug auf die Stigmatisierung von Cannabis eine Rolle gespielt. Während die besser verdienenden US-Amerikaner:innen begannen, illegal Schnaps zu brennen, griff die ärmere Bevölkerung auf das von karibischen Zuckerrohrplantagen und aus Mexiko eingeführte Marihuana zurück. Die ärmere Bevölkerung, das waren mehrheitlich Schwarze, Latinos und andere Minderheiten. Sie wurden von da an am stärksten mit Cannabiskonsum assoziiert.
Ein nach dem Ende der Prohibition 1933 neu geschaffenes Drogendezernat verstärkte den Effekt. Dessen Leiter, Harry J. Anslinger, ein US-amerikanischer Diplomat deutsch-schweizerischer Herkunft, begann eine großangelegte Kampagne gegen Cannabis. Er war es auch, der den Konsum mit Gewaltkriminalität und Wahnsinn verknüpfte. Cannabis wurde zum Killer-Weed.
In den USA hat jedoch längst eine gegenläufige Bewegung eingesetzt. In mehr als 15 US-Bundesstaaten ist Cannabis inzwischen legal. Wer mindestens 21 Jahre alt ist, darf es dort kaufen und konsumieren. Auch in Kanada ist der Konsum seit 2018 erlaubt. Bis zu 30 Gramm und vier Pflanzen darf ein Erwachsener dort besitzen. Ein Cannabisministerium regelt die Besteuerung und Anbaukontrolle.
Während der letzten großen Debatte um die Freigabe von Cannabis in Deutschland im Jahr 2019 fertigte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages einen Sachstand zu der Auswirkung von Legalisierung auf die Konsument:innenzahl in ausgewählten Ländern an. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass „Länder, die eine Liberalisierungspolitik verfolgen, einige der niedrigsten Prävalenzraten aufwiesen.“ Und selbst in Kanada, wo der Konsum drei Monate nach der Legalisierung um vier Prozent gestiegen war, habe die Freigabe kaum eine Auswirkung auf Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren gehabt. Ein Großteil der Erstkonsument:innen waren dort Männer zwischen 45 und 64 Jahren.
Unternehmen erkennen riesigen Absatzmarkt
Auch einige deutsche Unternehmen haben die hiesige Debatte mit Interesse verfolgt. Denn eine Legalisierung, so viel steht fest, bringt sowohl der Wirtschaft als auch dem Staat eine Menge Geld. Mehr als 4,7 Milliarden Euro pro Jahr könnten dadurch für den Bundeshaushalt zusammenkommen, hat der Hanfverband ausgerechnet. Zusammengesetzt ist diese Summe aus zusätzlichen Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträgen sowie Einsparungen bei der Strafverfolgung. Darüber hinaus entsteht jetzt schon ein komplett neuer Industriezweig in Deutschland, der auch die Anbautechnik und verschiedenste künftige Darreichungsformen wie THC-haltige Getränke und Lebensmittel, sogenannte „Edibles“, einschließt.
Ein Unternehmen, das schon vor vier Jahren entsprechende Weichen gestellt hat, ist die 115 Jahre alte Beleuchtungsfirma Osram. Einer, der dort Innovationen vorantreiben soll, ist Timo Bongartz, 36 Jahre alt, Gelfrisur, Gründer-Enthusiast. Vor sechs Jahren wurde Bongartz als Innovationsmanager eingestellt. Als solcher hat er bei Osram eine neue Sparte etabliert. „Horticulture“ heißt sie, Gartenbau auf Deutsch. „Eigentlich ging es zunächst ausschließlich um Lebensmittelpflanzen“, sagt Bongartz in der „World of Light“, einem firmeneigenen Museum im ersten Stock der Konzernzentrale. Doch dann habe man erkannt, dass sich mit Zubehör für den Cannabisanbau zeitnah und gewinnbringend expandieren lässt.
„Cannabispflanzen brauchen sehr viel Licht“, sagt Bongartz, während er vor einem hüfthohen Podest mit beleuchteten Plastikpflanzen steht. Und weil klassische Lampen einen hohen Stromverbrauch haben und darüber hinaus viel Wärme erzeugen, habe sich beim Cannabisanbau früher als anderswo die LED-Technologie durchgesetzt. Also habe der Vorstand vor vier Jahren entschieden, ein Unternehmen aufzukaufen, das beim Thema LED-Beleuchtung in Gewächshäusern Expertise hat: Die Wahl fiel auf Fluence Bioengineering, ein Startup mit Sitz in Austin, Texas.
„Als ich das Thema intern zum ersten Mal gepitcht habe, war das natürlich erst mal nichts, von dem man die Leute leicht überzeugen kann“, sagt Bongartz. Die Stereotype mussten aus den Köpfen: Kein Bob Marley, kein Hip-Hop, kein Flower-Power, stattdessen nannte er wissenschaftliche Fakten. Zum Beispiel, dass Cannabis nachweislich bei Epilepsie entspannt und die Folgen von Multipler Sklerose mindert. „Wenn man versteht, dass Cannabis medizinisches Potenzial hat, auch im sogenannten Recreational Bereich, wird schnell klar, dass man gleichbleibende Anbaubedingungen braucht, um die erforderlichen Standards zu erfüllen.“
Inzwischen ist Bongartz zum General Manager für den Bereich Europa, Naher Osten und Afrika aufgestiegen. Cannabisproduzenten und Firmen, die in Gewächshäusern und Vertical Farms Gemüse unter LED-Beleuchtung anbauen, halten sich mittlerweile die Waage.
Eine Legalisierung in Deutschland ist für die Osram-Tochterfirma vor allem als Absatzmarkt interessant. „Unsere Kunden sind Grower“, sagt Bongartz. Weil die Energiepreise in Deutschland hoch und Flächen rar seien, sei der Anbau anderswo profitabler. Auch hätten andere Länder aufgrund von Lockerungen und weniger restriktiven Bestimmungen einen Wissensvorsprung aufgebaut. Portugal, zählt er auf. „Dort herrscht ein ähnliches Klima wie in Kalifornien.“ Die Schweiz, Israel und Südafrika, aber auch Holland und Dänemark, die seit Jahrzehnten Blumen in Gewächshäusern ziehen, seien für sein Unternehmen bedeutsam. Griechenland und Nordmazedonien kämen derzeit als neue Länder dazu.
„Wenn der Bedarf an Cannabis steigt, werden auch mehr LED-Leuchten gebraucht. Und wer weiß“, sagt der Manager, „wenn sich der Trend fortsetzt, dass Konsument:innen verstärkt regionale Produkte nachfragen, um den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, dann ist irgendwann vielleicht auch Brandenburger Kush gefragt.“
Die Frage, wer die „lizenzierten Geschäfte“ sind, die laut Koalitionsvertrag künftig Cannabis verkaufen dürfen, ist bislang nicht geklärt. Die Apotheken haben bereits ihr vorsichtiges Einverständnis signalisiert.
„Wir reißen uns nicht darum, künftig in unseren Apotheken Cannabis zu verkaufen“, sagte die Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) Gabriele Regina Overwiening dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Im Fall einer Legalisierung sind wir aber davon überzeugt, dass es nur die Apotheken ein Höchstmaß an Sicherheit für die Konsumenten gewährleisten können.“ Experten wie Jugendrichter Müller hoffen eher auf lizenzierte Fachgeschäfte mit geschultem Personal, das fachgerecht zu verschiedenen Sorten und Wirkungsweisen beraten kann.
Müller hat noch drei Wünsche. Erstens: „Macht schnell.“ Dass Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz genommen und damit entkriminalisiert werde, wolle er in den ersten hundert Tagen der Regierung sehen. Zweitens: „Die Abgabe von Cannabis von Erwachsenen über 21 Jahren an Kinder und Jugendliche soll weiterhin unter Strafe stehen – aber nicht so rigoros, wie das jetzt der Fall ist.“ Und drittens: „Die Rehabilitierung von Menschen, die durch deutsche Richter und die strafrechtliche Verfolgung kaputtgemacht worden sind.“ Dass die Legalisierung im Koalitionsvertrag stehe, sei ein Erfolg. „Aber das muss alles noch weitergehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen