Laufsport für alle in Berlin: Quält euch!
Selbstorganisierte Sportgruppen sind attraktive Alternativen zu klassischen Vereinen. Aber warum tun sich die BerlinerInnrn das an?
Eigentlich ist es kein Tag, um freiwillig vor die Tür zu gehen. Dennoch stehen am Dienstag dieser Woche über vierzig Menschen in Sportbekleidung vor einem kleinen Café in Prenzlauer Berg. Die Temperaturen liegen knapp über null, aus dem Regen des Nachmittags ist feuchter Schneefall geworden. Die Menge tänzelt gegen die Kälte von einem Bein auf das andere.
Dann erhebt Marco Prüfer, Besitzer des Café Kraft und Organisator der selbsternannten Kraft Runners, die Stimme. „Heute laufen wir Meilen“, ruft er. „Die Strecke ist eine Meile lang, also 1,6 Kilometer. Ziel sind fünf Meilen.“ Unter Applaus und lautem „Auf geht’s!“ startet die Gruppe in die Aufwärmrunde. Hintereinander biegen die Runners um Straßenecken des Wohnviertels. Hin und wieder hallt ein „Vorsicht Fußgänger“ von vorne, einige LäuferInnen heben ihre Hände, um denen hinter sich ein Warnzeichen zu geben. Verkehrsschilder und Passanten werden so routiniert umlaufen.
Noch wird beim Laufen geplaudert – über Alltag, Arbeit und über Sport. Man berichtet von Verletzungen und persönlichen Bestzeiten. Auch das Wetter ist diesmal Thema bei dem wöchentlichen Lauftreff. Nach drei Wochen winterlichen Sonnenscheins sei dieser Tag der schlimmste der letzten Zeit. Dementsprechend eingetrübt ist auch die Stimmung unter den Passanten. Genervt klingeln sich Fahrradfahrer in Regenjacken einen Weg durch die große Läufergruppe, die gerade den Schwedter Steg, die lange Fußgängerbrücke über den S-Bahngleisen, überquert.
Das Aufwärmen endet wieder beim Café. Nach kurzem Lockern der Beine geht es bei den Kraft Runners richtig los. Eine halbe Stunde wird gelaufen. Wer es schafft, läuft in dieser Zeit fünf Meilen. Doch auch drei oder vier sind in Ordnung, beruhigt Marco Prüfer die LäuferInnen. Kurz nach dem Start sind die vordersten LäuferInnen bereits weit voraus. Andere gehen das Training entspannter an, laufen zu zweit oder dritt ruhigeren Schrittes hinterher. „Lass uns drei Runden schaffen“, sprechen sich einige ab.
Fünf High Fives pro Meile
Der Wind ist kalt, der Schneeregen trifft hart auf Stirn und Wangen. Trotzdem hängt man sich an andere, die ein wenig schneller sind als man selbst, um sich etwas anzuspornen. Nach jeder Runde wird eine zweiminütige Pause eingelegt und dann die nächste Runde begonnen – nun in entgegengesetzter Richtung. So kommen sich schnellere und langsamere LäuferInnen ständig entgegen. Das motiviert. Man kann sich gegenseitig anfeuern, erklärt Marco Prüfer. Fünf Leute sollte jeder mindestens pro Meile abklatschen, hatte er vor dem Training in die Menge gerufen.
Gesagt, getan. Jeder wird beklatscht und bejubelt. Von dem militärischen Ton anderer Fitnessveranstaltungen wie etwa der sogenannten Bootcamps hält man bei den Kraft Runners nichts. Es geht schließlich um den Spaß am Laufen – auch bei eisigem Wetter. Das vordere Feld feuert die Nachzügler im Vorbeilaufen an, sie hätten es bald geschafft. Und es scheint zu wirken. Wer noch letzte Kraftreserven hat, geht entschlossenen Blickes in den Endspurt.
Erster Schnee bleibt auf den Bürgersteigen liegen und macht die Wege glatt, Vorsicht ist geboten. Die Gesichtsausdrücke der LäuferInnen sind gequält, die Kleidung durchnässt. Was hat einen bei diesem Wetter nur wieder vor die Tür getrieben?
Die Kraft Runners sprinten abends in Rudelstärke über die Gehwege in Prenzlauer Berg und feuern sich gegenseitig an: „Noch 200 Meter, come on, zieh durch!“ Dann gibt es andere, die in Parks an Turngeräten hängen, die aussehen wie zu groß geratene Spielplatzmöbel – zum Beispiel im Monbijoupark in Mitte und im Sportpark am Alten Poststadion in Moabit. Sie alle sind meist jung, Anfang 20 bis Mitte 30, die Gruppe ist wichtig, und die Label, unter denen diese Sportgruppen firmieren, klingen angelsächsisch: Bootcamps, Calisthenics, die Kraft Runners.
Wie schon Turnvater Jahn
Die Prenzlberger Läufer sind im Prinzip ein klassischer Lauftreff. Die Bootcamp-Leute, die man in kleinen Grüppchen im Tiergarten, im Pankower Bürgerpark oder im Volkspark Schöneberg beobachten kann, betreiben im Prinzip nichts anderes als Zirkeltraining an der frischen Luft: diese aus Schulsportzeiten bekannte (und von den meisten gehasste) Mischung aus verschiedenen Stationen, an denen man Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer trainiert – Seilchen springen, Liegestütze, Hanteln heben.
Und Calisthenics oder auch Street-Workout kommt dem guten alten Geräteturnen nach Turnvater Jahn recht nahe – bloß, dass die Reckstange für die pull-ups (Klimmzüge) nicht in einer miefigen Turnhalle steht, sondern im Stadtpark. Und man zwischendurch noch ein paar Einheiten bodyweight exercises (Kraftübungen ohne Hilfsgeräte) einflicht: push-ups (Liegestütze) und squats (Kniebeugen).
Etwas provokant könnte man sagen: Es geht hier um die uralten Sportarten Leichtathletik, Turnen und Kraftsport, neu gelabelt, draußen auf der Straße und abseits fester Vereinsstrukturen. Und um ein junges Großstadtpublikum, das darauf steht, sich unter dem Kommando eines Vorturners in der Gruppe so richtig plattzumachen.
„Wir sind in den letzten Jahren sehr viel sichtbarer geworden in der Stadt“, sagt auch Dennis Vitaliev. Vitaliev ist Geschäftsführer seines eigenen kleinen Start-ups: Barliner Workout hat er es genannt. 2013 fing er an, Calisthenics-Kurse anzubieten – kostenlos, man verabredete sich über Facebook zur Draußenturnstunde, meist am Moabiter Poststadion, wo einer der berlinweit größten Erwachsenenspielplätze mit den meisten Turngeräten steht. „Aktivplätze“ heißen sie beim Landessportbunds, der 32 Plätze in der Stadt auflistet, aufgestellt werden sie aus Bezirksmitteln.
Gegentrend zu Fitnessstudios
Für Vitaliev sind diese Aktivplätze inzwischen seine Arbeitsplätze. Seit einem Jahr ist der Immobilienwirt mit seinem Studium fertig, seitdem versucht er, mit dem ehemaligen Hobby Geld zu verdienen: Die Draußentreffen sind noch immer kostenlos, inzwischen bietet er aber auch Einheiten im Studio an, ab 75 Euro im Monat kostet die Mitgliedschaft, wenn man die Drinnenkurse buchen will. Die Firma, sagt Vitaliev, habe gleich im ersten Jahr Gewinn abgeworfen.
Wofür sind die Leute also bereit zu zahlen? „Die Community zählt, die wollen Socializing“, sagt Vitaliev. Alleine im Fitnessstudio vor sich hin zu schwitzen sei vielen zu anonym, die Gruppen dort zu unpersönlich. Zu den Calisthenics-Übungen im Moabiter Poststadion kommen bis zu 40 Leute, davon seien etwa ein Drittel Frauen. Der Sport vor allem als Anlass zusammenzukommen: im Prinzip also der klassische Vereinsgedanke, der Stammtisch nach der Arbeit.
Das sagt auch Sportwissenschaftler Benjamin Wienke von der Humboldt-Universität, der über Emotionen im Sport promoviert und sich damit beschäftigt, was die Leute zu dieser neuen Art des Gruppensports treibt. Er sieht die öffentlichen Trainings und Bootcamps „als Gegentrend zu den Fitnessstudios“ – auch weil viele „die Nase voll haben von den dunklen Studioräumen, in denen es meist laute Musik zu schlechter Luft gibt und dazu das Klirren und Scheppern der Geräte“. Man schätze, so Wienke, zudem „das Informelle, die direkte Kommunikation mit einem Trainer“.
Bootcamp: Trainiert wird eine Mischung aus Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Koordination. Die Trainingsmethode ist angelehnt an die sportliche Grundausbildung der Rekruten beim US-Militär. Die Kleingruppen von rund zehn Leuten treffen sich überall in der Stadt in Parks, trainiert wird meist eine Stunde. Mitunter werden Bänke oder Mauern als „Geräte“ in das Training einbezogen. Preise ab etwa 10 Euro/Stunde. Anbieter: Original Bootcamp, Fitness Bootcamp Berlin, CityBootCamp und andere.
Calisthenics: Kennt man auch als Street-Workout und bezeichnet ein Kraft- und Muskelaufbautraining, das nur mit dem eigenen Körpergewicht arbeitet. Dafür wird an Fitnessgeräten trainiert – und zwar draußen: 41 „Outdoor Gyms“ in Berlin listet calisthenics-parks.com, wo sich die Szene vernetzt. Freiberufliche Trainer nutzen die Plätze für Workout-Angebote.
Aktivplätze: Beim Landessportbund (LSB) heißen die Outdoor Gyms „Aktivplätze“, allerdings sind dort nur 32 Orte bekannt. Bis auf Treptow-Köpenick haben alle Bezirke zwischen einem und fünf dieser „Bewegungs- und Fitnessparcours“. Auf der LSB-Website sind sie übrigens unter der Rubrik „Sport der Älteren“ zu finden. (taz)
Der gute alte Sportverein eigentlich, „bloß eben nicht so altbacken“, sagt auch Jan Jacobsen. Jacobsen ist „Headcoach Berlin“, Cheftrainer, bei der Firma Original Bootcamp, die 2009 in Köln gegründet wurde und inzwischen Ableger in 50 Städten hat – alleine 19 Gruppen trainieren derzeit in Berliner Parks: klassische Kraft- und Athletikübungen, teilweise mit einfachen Hilfsmitteln wie Hanteln, simples Tauziehen, Sprints auf der Stelle gegen den Widerstand eines Gummibands, Sprünge, Gymnastik.
Vom Hobby zum Unternehmen
„Im Prinzip machen wir funktionelles Athletiktraining, wie es auch Leistungssportler als Grundlagentraining machen“, sagt Jacobsen. „Übrigens ohne Anschreien“, sagt er, auch wenn das viele dächten. Bootcamp ist ein Begriff aus der Rekrutenausbildung beim US-Militär.
Vor sechs Jahren traf sich die erste Bootcamp-Gruppe im Volkspark Friedrichshain, sie bestand aus Jacobsen und drei seiner Freunde. Inzwischen, sagt der studierte Sportökonom, arbeiten 16 selbstständige TrainerInnen in Berlin auf Honorarbasis für Original Bootcamp, etwa 250 Leute hat die Firma derzeit in Berlin in der Kartei. Ein Camp dauert zwei Monate, in der Zeit trifft man sich ein- bis zweimal die Woche zu festen Zeiten, eine Stunde Training kostet elf Euro. „Wir haben inzwischen viele Stammkunden“, sagt Jacobsen.
Nicht überall steckt ein Start-up hinter den Zusammenkünften: Es gibt nichtkommerzielle Gruppen wie die Kraft Runners, von denen Mitgründer Nikolas Zeigert sagt: „Es würde den Charme verlieren, wenn wir Geld nähmen. Laufen sollte nichts kosten.“
Es gibt auch die Facebook-Seite mit dem Lauftreff von TAM, kurz für Trail am Mittwoch, wo grinsende Gesichter in eine Handykamera schauen, überstrahlt von leistungsstarken Stirnlampen: Die Gruppe trifft sich abends am Teufelsberg im Grunewald, läuft dort in der Dunkelheit bergauf, bergab – und zwar nicht auf breiten Wegen, sondern auf Trails, neudeutsch für eher enge gewundene Pfade. TeilnehmerInnen erzählen begeistert vom Gemeinschaftserlebnis genauso wie vom Höhenmetersammeln.
Ghetto-Workout mit Street Credibility
Facebook-Gruppe statt Verein, Trail statt Jogging – reicht normales Laufen im Park nicht mehr aus? „Ich glaube, dass immer Leute auf der Suche nach etwas Besonderem sind“, sagt Jens Larisch, der jeden Mittwoch die Trailläufe organisiert. Das Mitlaufen ist kostenlos – allerdings organisiert Larisch die Lauftreffs im Auftrag eines Schuhherstellers, der sich natürlich davon verspricht, als Marke unter den LäuferInnen präsent zu werden.
Es gibt Non-Profit-Lauftreffs, es gibt Graubereiche. Es gibt aber auch professionelle Start-ups wie Original Bootcamp, die längst dabei sind, die Szene zu kapitalisieren – und andere ziehen nach. „Das geht gerade extrem schnell“, sagt Dennis Vitaliev von Barliner Workout. „Der Fun-Gedanke professionalisiert sich.“
Bei Calisthenics, das auch unter dem Namen Street-Workout oder Ghetto-Workout firmiert, ist das Raubeinig-Urbane, diese irgendwie ein bisschen links daherkommende street credibility, letztlich auch ein Image, mit dem sich werben lässt für Angebote, die dann zwar günstiger sind als Stunden beim Personal Trainer – aber auch teurer als das Fitnessstudio oder gar die paar Euro Beitrag pro Jahr für den klassischen Turnverein.
Das muss nicht schlecht sein. Die Szene der oft nur prekär verdienenden freien TrainerInnen profitiere davon enorm, sagt Jacobsen. Wer im Fitnessstudio arbeite, verdiene etwa 25 Euro pro Stunde, die Trainer bei Original Bootcamp, die alle eine sportwissenschaftliche oder -therapeutische Ausbildung und Berufserfahrung nachweisen müssen, kämen im Schnitt auf 35 bis 40 Euro.
Der Spaß soll nicht zu kurz kommen
Die Start-ups können gut zahlen, weil sie kaum anderweitige Fixkosten haben, sagt auch Sportwissenschaftler Wienke. Keine Räume, die sie bezahlen müssen, kein Strom, keine teuren Geräte, die man für wenig Lohn vielleicht noch selbst reinigen muss: „Wenn man als Trainer seine Dienste für solche Outdoortrainings anbietet, braucht man, natürlich neben einer ordentlichen Qualifikation nur eine Steuernummer“, sagt Wienke.
Das sei gerade für jüngere, onlineaffine Leute attraktiv: „Die akquirieren über Facebook oder Instagram, dann geht das meist mit kleineren Gruppen los, und mittlerweile entstehen auch größere Plattformen und Netzwerke.“ Die Professionalisierung der Szene öffnet zudem den Kreis über die Twenty- und Thirtysomethings hinaus: Original Bootcamp zum Beispiel bietet inzwischen auch Firmencoachings an, die Krankenkassen zahlen das Trainingskonzept des Unternehmens zudem als Gesundheitsprävention.
Jacobsen, bisher freier Fitnesstrainer, soll dieses Geschäft künftig als fest angestellter Manager für die „Region Ost“ koordinieren. Dieser Fun-Gedanke, der sich mit dem Leistungsgedanken verbindet, dieses An-die-persönlichen-Leistungsgrenzen-Gehen, aber auf Kommando (ob nun gebrüllt oder nicht) und in der Gruppe: Vielleicht passt das auch ganz gut zu den allgemeinen Zuschreibungen, mit denen diese Generation immer bedacht wird: Leistung ist wichtig, aber der Spaß soll bitte nicht zu kurz kommen. Die Work-Life-Balance muss stimmen. Auch beim Sport.
Die Kraft Runners in Prenzlauer Berg haben sich übrigens, ganz altmodisch, als Verein registrieren lassen – um rechtlich besser abgesichert zu sein, falls jemand beim Training zu Schaden kommen sollte. Und weil man überlegt, die Sache größer aufzuziehen, demnächst eigene Laufevents zu organisieren.
Fast wie im Vereinsheim endet daher auch das Lauftraining am Dienstagabend. Fröstelnd und mit Schnee im Gesicht sammeln sich die Kraft Runners im Café Kraft in der Schivelbeiner Straße, es gibt Glühwein. Im Sommer gebe es dann auch mal ein Bier, sagt Nikolas Zeigert. Man wärmt sich an den Tassen, steht noch ein bisschen zusammen, als Gruppe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen