Langzeitarbeitslose in Deutschland: Gefangen im System

Vier Jahre und länger Hartz-IV: Mehr als 750.000 Langzeitarbeitslose haben kaum Perspektiven. Corona verschärft die Situation.

Eine Frau geht mit einem Rollkoffe eine Straße entlang. Im hintergrund sind geschlossene Geschäfte zu sehen

Auch wenn die Läden irgendwann wieder auf sind, die Lage der Langzeitarbeitslosen verschärft sich Foto: reuters

BERLIN taz | Endstation Hartz IV? Knapp die Hälfte aller arbeitslosen, erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher*innen ist seit 4 Jahren und länger im Leistungsbezug. Das ergibt die Antwort des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf eine Anfrage der Linken-Politikerin Sabine Zimmermann an die Bundesregierung. Besonders dramatisch sind die Zahlen für Ostdeutschland: Die vier am stärksten betroffenen Regionen sind sämtlich brandenburgische oder sächsische Städte und Kreise. Hier liegt der Anteil der Lang­zeit­be­zie­he­r*in­nen bei bis zu 64,7 Prozent. „Insgesamt reden wir von 762.000 Menschen, die seit Jahren abgehängt und gefangen im Hartz-IV-System sind“, sagte Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, der taz.

Die Zeit vor Corona war eigentlich von positiven Meldungen geprägt: Bis 2019 war die Zahl der Arbeitslosen, die die Bundesarbeitsagentur erfasst, deutlich gesunken: Von 4,86 Millionen im Jahr 2005 auf 2,27 Millionen. Seitdem steigt sie wieder: 2,7 Millionen Menschen waren im Coronajahr 2020 ohne Arbeit. Für 2021 deutet sich an, dass es noch einmal mehr werden könnten.

Besonders dramatisch ist die Entwicklung bei den Langzeitarbeitslosen, zu denen laut Statistik der Bundesarbeitsagentur alle gehören, die länger als ein Jahr arbeitssuchend gemeldet sind. Im März waren 2,8 Millionen Menschen als arbeitslos erfasst, 21 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Eine Million von ihnen sind Langzeitarbeitslose, das sind 45 Prozent mehr als im März zuvor.

Die Zahl der arbeitslosen, erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger*innen ist noch einmal deutlich höher, weil in der Arbeitslosenstatistik etwa langzeitarbeitslose Menschen über 58 und Menschen mit 1-Euro-Jobs nicht erfasst sind.

Teilhabechancengesetz wirke nicht

„Die Bundesregierung hat langzeitarbeitslose Menschen abgeschrieben“, sagt Zimmermann zu den Zahlen, hinter denen sich vielfach die Schicksale gerade älterer Menschen, aber auch Menschen mit Schwerbehinderung oder Migrationshintergrund verbergen. Die Programme der Regierung gegen Langzeitarbeitslosigkeit wie das Teilhabechancengesetz wirkten nicht. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte damit 2019 zwei neue Möglichkeiten geschaffen, um Langzeitarbeitslosen Perspektiven zu bieten.

Die einstellenden Unternehmen bekommen Lohnkostenzuschüsse bis zu 100 Prozent und die geförderten Personen Coaching. Von den ursprünglich im Koalitionsvertrag geplanten 150.000 Stellen sind aber zwei Jahre nach Inkrafttreten nur rund ein Drittel realisiert. Die Hürden seien zu hoch, die finanzielle Ausstattung zu gering, kritisiert Zimmermann. So verfestige sich Langzeitarbeitslosigkeit weiter und die regionalen Unterschiede sind dramatisch. Während in Pfaffenhofen an der Ilm 16,7 Prozent und in Eichstätt 18,3 Prozent der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger*innen vier Jahre und länger im Leistungsbezug sind, sind es 64,7 Prozent im Landkreis Spree-Neiße und 64,4 Prozent im Landkreis Görlitz.

„Die Regierung hat eine Verantwortung diesen Menschen gegenüber“, sagt Zimmermann und fordert neben einem stärkeren öffentlichen Beschäftigungssektor auch Qualifikationsprogramme, die stärker auf die Anforderungsprofile der Unternehmen zugeschnitten sind, sowie eine finanzielle Absicherung von Langzeitarbeitslosen, die ein Leben ohne Armut ermöglicht. Klar sei, dass Corona nicht nur die Situation und die Perspektiven langzeitarbeitsloser Menschen verschärft, sondern sich deren Kreis auch vergrößern wird. „Wir müssen jetzt verhindern, dass es hier zu einem sozialen Kahlschlag kommt.“

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