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Mohamed B, Conteh Foto: Katrin Gänsler

Landgrabbing in Sierra LeoneBesetzte Heimat

Ausländische In­ves­to­ren haben Sierra Leones Kleinbauern mit Pachtverträgen über Jahrzehnte Land abgeluchst. Neue Gesetze sollen das nun verhindern.

Von Katrin Gänsler aus Tonka/worreh Yeama

V illage Freitagnachmittag im Dorf Tonka. Der kleine Ort liegt rund eine Autostunde entfernt von der Stadt Makeni in der Provinz Nord in Sierra Leone. In der drückenden Mittagshitze ist niemand auf der sandigen Straße unterwegs. Die aus Holz gezimmerten Verkaufsstände sind leer. Die meisten Männer sind zum Beten in der Moschee. Frauen stehen mit den Füßen im Fluss Rokel, an dem das Dorf mit rund 300 Ein­woh­ne­r*in­nen liegt, und waschen Kleidung. Eine Gruppe Jungs im Grundschulalter tobt durch das flache Wasser. Am Uferrand liegt ein Wald mit hohen Palmen, aus deren Früchten Öl gewonnen wird. Palmöl gehört in Sierra Leone in fast jedes Gericht. Der Wald ist ein angenehmer und wichtiger Schattenspender.

Google Maps kennt Tonka nicht. Der Ort ist zu klein, zu ihm führt nur eine Piste aus Sand und kleinen Steinen, die sich in der Regenzeit in glitschigen Schlamm verwandelt. Doch Tonka hat schon vor Jahren international Bekanntheit erlangt. Kein anderes Dorf liegt so dicht am Betriebsgelände der Schweizer Firma Addax Bioenergy. Die hat sich zwar bereits 2016 aus dem westafrikanischen Land zurückgezogen und drei Viertel ihrer Anteile an Sunbird Bioenergy Sierra Leone Limited verkauft. Das Projekt erfüllte die Erwartungen nicht.

Die Schweizer stehen synonym für Landraub

Doch der Name Addax – eine Presseanfrage ist unbeantwortet geblieben – ist weiterhin gebräuchlich, ist er doch zum Synonym für Landraub im riesigen Stil geworden. Unter den Folgen werden die Betroffenen wohl auch Jahrzehnte später noch leiden.

Das Unternehmen, das der Schweizer Milliardär Jean Claude Gandur gründete, handelte im Jahr 2008 einen Pachtvertrag über eine Fläche von 55.000 Hektar mit einer Laufzeit von einem halben Jahrhundert aus, um aus Zuckerrohr Biokraftstoff zu gewinnen. Vor Ort und auf internationaler Ebene klang das nach einer zukunftsträchtigen Investition und weckte große Hoffnung auf ein besseres Leben.

Zwischen 1991 und 2002 tobte in Sierra Leone (8,9 Millionen Einwohner*innen) ein Bürgerkrieg, durch den 70.000 Menschen starben und rund 2,6 Millionen Menschen zu Binnenvertriebenen wurden. Bis heute belegt das Land Platz 181 von 191 auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen. Sierra Leone lag am Boden, und jede Aussicht auf eine bessere Zukunft war willkommen.

Bei Mohamed Koroma war das nicht anders. Der schmächtige Mann ist traditioneller Chef von Tonka – das Amt, das einem ehrenamtlichen Bürgermeister ähnelt, wird innerhalb einer Familie weitergegeben – und kommt mit einer Gruppe von Männern aus der Moschee zurück. Sie setzen sich in den Versammlungsraum, eine betonierte und überdachte Fläche mit ein paar Holzbänken und Plastikstühlen. Hier werden die Belange des Dorfes besprochen.

Koroma trägt ein grünes Basecap mit rotem Rand, ein weißes T-Shirt und eine schwarze Hose. Als vor mehr als 15 Jahren Spekulationen aufkamen, dass ein Unternehmen aus Europa Interesse an dem Land habe, freute er sich zunächst. „Weiße Menschen sind gekommen. Ich dachte mir, dass sie eine Verbesserung für unser Leben sind.“ Koroma ist nicht der einzige, der so argumentiert. In Gesprächen heißt es häufig, dass das Vertrauen in europäische Investoren zunächst groß war.

Mohamed Koroma, Dorfchef von Tonka Foto: Katrin Gänsler

Koroma hat sein ganzes Leben in Tonka verbracht und kann sich nicht vorstellen, wegzuziehen. Die Be­woh­ne­r*in­nen haben stets von der Subsistenzlandwirtschaft gelebt. Produziert wird für den Eigenbedarf. Gibt es einen Überschuss, wird der verkauft, um beispielsweise Schulausgaben zu bezahlen. „Unsere Eltern haben Reis, Erdnüsse, Bohnen und Cassava angebaut. Palmöl haben sie hergestellt und Fische gefangen“, erinnert er sich an seine Kindheit. Das sei kein schlechtes Leben gewesen, aber auch ein anstrengendes.

Investitionen versickern

Bis heute fehlt es vielfach an Möglichkeiten, technische Geräte zu nutzen. Sowohl die Anschaffung als auch Leihgebühren für wenige Stunden lassen sich kaum bezahlen. Nach Schätzungen der Weltbank gelten bis heute drei Viertel der Landbevölkerung als arm. Die Aussicht auf Zusagen, eine Fabrik zu bauen und Arbeitsplätze zu schaffen, klang verheißungsvoll. Ein geregelter Lohn bedeutet auch, dass mit dem Geld beispielsweise Ausgaben für die Schule oder Arztrechnungen bezahlt werden können. Zusätzlich war da die Hoffnung auf Pachteinnahmen. Pro Acre (0,4 Hektar) sind das jedoch nur 3,60 US-Dollar – rund neun US-Dollar pro Hektar pro Jahr. Die Landgrößen beriefen sich bisher meist auf Schätzungen. Von der Kompensation geht lediglich die Hälfte an die Besitzer. Auch Regierung, Distrikt sowie die Paramount Chiefs werden bedacht. Von denen gibt es in Sierra Leone knapp 200, von denen jeder einem eigenen Reich vorsteht.

Diese traditionellen Herrscher gelten in Teilen als „Hüter des Landes“, vermitteln bei Konflikten; Familienländereien unterstehen ihnen. Internationale In­ves­to­r*in­nen sind – neben guten Kontakten zu Regierung und Behörden – auf regionaler Ebene vor allem auf die Paramount Chiefs angewiesen, da es ohne sie keinen erfolgreichen Deal gibt. Das bringt sie in eine mächtige Position. Längst nicht immer vertreten sie die Interessen der Besitzer. Einigen wird vorgeworfen, von Unternehmen Schmiergelder zu kassieren.

Landbesitzer werden zu Bittstellern

Obwohl die Dorfbewohner das wertvolle und begehrte Land haben, stehen sie weit unten, und es wird meist über ihre Köpfe hinweg entschieden. Auch im Addax-Fall sei das nicht anders gewesen, sagt Koroma. Texte waren von Ju­ris­t*in­nen verfasst worden. „Doch um die zu verstehen, muss man selbst Jurist sein“, kritisiert John Brima Kargbo. Er arbeitet für das Sierra Leone Netzwerk für das Recht auf Nahrung (SiLNoRF), eine nichtstaatliche Organisation, die sich für Landrechte und Nahrungsmittelsicherheit einsetzt.

Kargbo begleitet den Addax-Fall seit Jahren und ist in der Region einer der Ansprechpartner zu Landfragen. Sein Fazit ist eindeutig: Von den versprochenen Großinvestitionen profitieren die Dorfgemeinschaften nicht. Mohamed Koroma blickt für einen Moment auf den Dorfplatz. Eins ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: „Wir sollten eigentlich nur unterschreiben.“

Hier ist Tonka – noch. Das Dorf stand kurz davor, umgesiedelt zu werden Foto: Katrin Gänsler

Die Konsequenzen spürt er bei jedem Schritt in Tonka: Die Landbesitzer – häufig sind es große Familien, in denen ältere und geachtete Männer die Entscheidungen treffen – sind zu Bittstellern geworden, haben sie doch ihre gesamten Flächen für Jahrzehnte abgegeben. John Brima Kargbo sagt: „Wir haben versucht, in den Verträgen die Dörfer auszusparen. Friedhöfe, Orte, die traditionell als heilig gelten, sollten nicht verpachtet werden.“ Gelungen sei das jedoch nicht.

Ebenso schlimm sei, dass einstige Flächen für Gemüse- und Getreideanbau nicht mehr zur Verfügung stehen. Subsistenzlandwirtschaft darf zwar weiterhin betrieben werden, aber nur an ausgewiesenen Stellen und nach vorheriger Absprache. Sicherheiten gibt es nicht. Dabei könne dort selbst ohne technische Geräte ein Vielfaches dessen erwirtschaftet werden, was die kaum nennenswerte Pacht abwirft. Das wird auch dringend benötigt: Durch ein Bevölkerungswachstum von jährlich 2,2 Prozent steigt der Bedarf an Lebensmitteln. Gleichzeitig lag die Inflation vergangenes Jahr bei 27 Prozent. Ein Kilogramm Reis – Hauptnahrungsmittel im Land – kostet mittlerweile umgerechnet 0,65 Euro. 2021 waren es noch 0,28 Euro.

E10 für Europa

Auch die angekündigte Fabrik hat die Erwartungen nicht erfüllt. Gut bezahlte Stellen mit langfristigen Verträgen sind für die Menschen auf dem Pachtgelände nicht entstanden, sagen John Brima Kargbo und Mohamed Koroma. Einstellungen für wenige Monate sowie die Mitarbeit auf der Plantage schaffen keine Sicherheit. Mithilfe des dort angebauten Zuckerrohrs sollte Bioethanol für den Biotreibstoff E10 destilliert und nach Europa exportiert werden. Acht afrikanische und europäische Entwicklungsbanken unterstützten das Vorhaben, darunter die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft. Biokraftstoffe galten als Möglichkeit, um Klimaziele zu erreichen, das Vorhaben in Sierra Leone als prestigeträchtig und zukunftsweisend.

Zehn Autominuten von Tonka entfernt ist das Fabriktor geschlossen. Davor laufen ein paar Hunde herum. Die Tankstelle, die anfangs Betriebsfahrzeuge betankt hat, ist außer Betrieb. Fotografiert werden soll hier nicht. Auch wenn Sunbird Bioenergy Sierra Leone Limited noch als Name auftaucht, ist der Investor mittlerweile Browns Investment, ein Unternehmen aus Sri Lanka. Es sind zunehmend Konzerne aus dem asiatischen Raum, die landwirtschaftliche Flächen auf dem afrikanischen Kontinent pachten. Dazu gehören auch Konzerne aus Malaysia und Indien. Häufig wechselnde Investor*innen, neue Besitzverhältnisse und An­sprech­part­ne­r*in­nen machen es zunehmend schwer, Kontakte aufzubauen und Informationen einzufordern, so John Brima Kargbo.

Gerade für Tonka ist das enorm wichtig, stand der Ort aufgrund der Nähe zum Betriebsgelände schon vor der Zwangsumsiedlung. Ähnliche Befürchtungen gab es auch in anderen Orten. In Tonka allerdings konnten die Menschen das Wasser aufgrund von Verschmutzung durch Pestizide und Düngemittel nicht mehr nutzen. „Einmal pro Woche brachten sie uns in einem Tanker Wasser, was aber nicht für das ganze Dorf ausreichte“, erinnert sich Mohamed Koroma. Erst nach Protesten vor Ort, die von Nichtregierungsorganisationen in Europa unterstützt wurden, erhielt Tonka eine Wasserversorgung über das Firmengelände, erzählt der Dorfchef.

Viel Wasser gibt es jedoch für etwas anderes: Die große Zuckerrohrplantage – das war bisher in der Region rund um Makeni nicht heimisch – benötigt Wasser und bekommt es auch durch viele Meter lange Bewässerungssysteme. Gepumpt wird es aus dem Fluss. Selbst kurz vor Beginn der Regenzeit sind die Blätter deshalb noch frisch und grün.

Die Politik ging in die Offensive

Landraub in diesem Stil sollen seit dem vergangenen Jahr nun zwei neue Gesetze verhindern, der Customary Land Rights Act und der National Land Commission Act. Landzugang für Frauen wird zusätzlich seit Anfang 2023 durch den Gender Equality and Women's Empowerment Act gestärkt. In den Gesetzen ist unter anderem festgelegt, dass der Staat die Höhe der jährlichen Pacht nicht mehr bestimmen darf. Die Flächen dürfen höchstens 15.000 Hektar groß sein und Verträge maximal 50 Jahre laufen.

Alle Kommissionen, die sich mit Landfragen befassen, müssen künftig mindestens zu 30 Prozent aus Frauen bestehen

Alle Kommissionen, die sich mit Landfragen befassen, müssen zudem mindestens zu 30 Prozent aus Frauen bestehen. Auch haben in Teilen des Landes Frauen erstmals überhaupt das Recht, Land zu besitzen. Bisher mussten sie mit kleinen Flächen Vorlieb nehmen, die ihnen beispielsweise männliche Familienmitglieder zugewiesen hatten und die ohne Vorwarnung auch wieder weggenommen werden konnten. Das Paradoxe daran: Etwa 70 Prozent aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft sind Frauen, schätzen die Vereinten Nationen. Für die Gesetze hat Sierra Leone auf internationaler Ebene viel Lob erhalten. Sie könnten künftig zum Vorbild für andere Länder auf dem Kontinent werden. Trotz Parlamentsdebatten und Diskussionen fehlt es ihnen allerdings noch an Bekanntheit. Organisationen wie SiLNoRF haben deshalb angefangen, in Dörfern Veranstaltungen zu organisieren und die Bewohner auf ihre Rechte hinzuweisen.

Rund um die Bioethanol-Fabrik sind die kleinen Dörfer durch braun-rote Schotterpisten verbunden. Alle sind Teil des verpachteten Landes. Einige hat Addax einst tatsächlich anlegen lassen. Theoretisch könnte den neuen Investoren sogar der Zugang verwehrt werden. Mohamed B. Conteh ist hier ständig mit seinem Moped unterwegs, berät, informiert und vermittelt. Er steht einer Vereinigung von Landbesitzern vor, und seine Familie hat selbst einen Teil der Flächen verpachtet, erzählt er in Worreh Yeama Village, seinem Heimatort. Das Dorf liegt in einem Wäldchen. Durch die Blätter fällt Sonnenlicht. Über die Entscheidung, nicht alles verpachtet zu haben, ist er mittlerweile sehr froh. Auch er sagt: „Unsere Erwartungen haben sich nicht erfüllt.“

„Wir haben viel Land, auf dem wir Nahrung anbauen könnten, aber nicht das Geld dafür“

Mohamed B. Conteh, Landbesitzer

Rückgängig machen lässt sich das nicht. Die neuen Gesetze kommen für ihn und alle Verpächter viel zu spät. Conteh sagt, dass es in den Verträgen eine Klausel gibt, die einen Ausstieg nach fünf Jahren noch möglich gemacht hätte. „Doch wer hätte diese schon lesen und verstehen können?“

Er dreht sich um und schaut durch Mangobäume und Palmen hindurch auf die großen Flächen, von denen trotz der Zuckerrohrplantage viele Hektar brach liegen. Dahinter liegt aus seiner Sicht das eigentliche Dilemma. „Wir haben viel fruchtbares Land, auf dem Getreide und Gemüse angebaut werden könnte. Doch wir haben nicht das Geld, die Menschen und die Technik, um das auch zu machen.“ Auch deshalb seien In­ves­to­r*in­nen erwünscht. „Aber sie müssen uns faire Konditionen anbieten und diese auch umsetzen“, fordert Conteh.

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