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Landesparteitag der Grünen in BaWü„Wir haben tiefe Furchen gezogen“

Baden-Württembergs Grüne wollen mit Cem Özdemir ihre 14 Jahre dauernde Erfolgsgeschichte fortschreiben. Der Ex-Bundesagrarminister ist jetzt Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2026.

Cem Özdemir soll es für die Grünen in BaWü richten Foto: Marijan Murat/dpa

Heidenheim taz | Das gibt es auch nur bei den Grünen: Zuerst wird der Spitzenkandidat nach seiner fast einstündigen Rede minutenlang bejubelt und gewählt, mit 97 Prozent, bei drei Neinstimmen und drei Enthaltungen. Und wenig später muss er nochmals ran, damit alles seine Ordnung hat.

Baden-Württemberg praktiziert bei der Landtagswahl im nächsten März ein neues Zweistimmen-Wahlrecht. Das Parlament solle auf diese Weise „bunter, jünger, weiblicher und vielfältiger werden“, sagt der Landesvorsitzende Pascal Haggenmüller in seiner Begrüßung. Nach dem seit Jahrzehnten geltenden Frauen-Status sind alle ungeraden Plätze aber Männern verschlossen. Also führt nominell Umweltminister Thekla Walker die Landesliste an erster Stelle an, während Özdemir noch einmal gewählt werden muss: auf Platz zwei, diesmal sogar mit 98 Prozent.

Zwei Zahlen, die für die großen Hoffnungen stehen, die die zwischen Main und Bodensee so erfolgsverwöhnte Partei mit dem Bad Uracher verbinden. Jüngste Umfragen sehen die CDU, die mit ihrem Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel in den Wahlkampf zieht, bei mehr als 30 Prozent und elf Punkte vor den Grünen. Die wiederum wollen gerade deshalb nicht allein auf die deutlich besseren Persönlichkeitswerte und den hohen Bekanntheitsgrad ihres Zugpferds Özdemir setzten. „Wir wollen zeigen, dass wir das Land in eine neue Epoche führen können“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann, „denn die Herausforderungen sind gewaltig, wenn man sie ausbuchstabiert und nicht nur Überschriften produziert.“

Letzteres richtete sich mit an Hagel höchstpersönlich. Aber dieser Samstag ist auch der Tag deutlicher Botschaften ohne Namensnennung, in der Erwartung, dass alle im Saal genau wissen, wer gemeint ist. Er wolle noch fast ein Jahr erfolgreich mit der CDU regieren, so Kretschmann, dessen Ding – ganz Staatsmann – persönliche Angriffe ohnehin nicht sind. Deshalb beschreibt er lieber den früheren Landwirtschaftsminister Özdemir als „prinzipienfeste, erfahrene, sturmerprobte Führungspersönlichkeit“. Er denke die Dinge zu Ende, rede den Menschen nicht nach dem Mund und verschweige unangenehme Wahrheiten nicht.

Zum Beispiel die: Drei Säulen des Geschäftsmodells „Made in Germany“ seien ein für alle Mal weggebrochen. „Mit günstiger Energie aus Russland haben wir uns die Grundlage des Wirtschaftens schöngerechnet, mit trügerischem Gutglauben haben wir uns darauf verlassen, dass die USA für unsere Sicherheit und unsere Verteidigung bürgen, und sehenden Auges haben wir zugeschaut, wie China die Wachstumsmärkte abgegraben hat“, erläutert der Ex-Landwirtschaftsminister, der zuletzt auch monatelang dem Bildungsressort vorstand. Gerade deshalb seien die Grünen im erfolgreichen Baden-Württemberg gefragt, „denn wir haben tiefe Furchen gezogen“.

Mutters Schere

Noch jongliert sich der frühere Stuttgarter Bundestagsabgeordnete, 2021 gewählt als Stimmenkönig mit knapp 40 Prozent, durch landespolitische Themen. Nicht jedoch ohne konkrete Ansagen, etwa das Land zur Modellregion für ein marktreifes Selbstfahrsystem im ÖPNV zu machen, nach dem Motto „Wo kein Busfahrer, da kein Bus.“ Oder mit der Idee, dank eines weiterentwickelten Prämiensystems Meisterprüfungen, Neugründungen und Betriebsübernahmen zu erleichtern.

Immer wieder kommt der einstige Vorsitzende der Bündnis-Grünen auf seine Biografie zu sprechen, auf seine Eltern, auf die Schere seiner eine Änderungsschneiderei betreibende Mutter. „Zu weit, zu eng, zu kurz, zu lang, das gab es für sie nicht, erzählt er, ‚sie hat alles passend gemacht.‘ Für jedes Problem gebe es eine Lösung.

Und dann spießt auch er – ebenfalls ohne Namensnennung – Hagel und einen Lieblingsspruch auf: Der CDU-Kandidat behauptet allenthalben, Kretschmanns Erbe sei bei ihm in guten Händen. Er wolle hier aber gar kein Erbe antreten, kontert der Grüne, und er wolle keine Thronfolge, „sondern mit Umsicht und Wertschätzung für Baden-Württemberg ein neues Kapitel aufschlagen“. Oder, wie der frühere Landesvorsitzende Oliver Hildenbrand sagt: „Lassen wir die Ärmel aufgekrempelt.“

Die beiden Parteitage von Grünen und Schwarzen unterstreichen die unterschiedlichen Herangehensweisen. Bei der CDU wurde vor einer Woche nach der erfolgreichen Krönungsmesse und einer viel beklatschten Rede von Bundeskanzler Friedrich Merz im Schnelldurchlauf erstmals die nach dem neuen Wahlrecht notwendige Landesliste gezimmert, dank Kurzvorstellungen der Kandidaten und zügiger Blockwahl. Die Grünen mühen sich an diesem Wochenende eineinhalb Tage lang: Bis zum 40. Listenplatz – gegenwärtig sitzen sie mit 58 Abgeordneten als stärkste Fraktion im Landtag – finden Einzelwahlen und -vorstellungen statt.

Auf diese Weise bekommen die Basisvertreter den regionalen und inhaltlichen Reichtum Baden-Württembergs präsentiert, einschließlich vieler Argumente für den anstehenden komplizierten Wahlkampf. „Ein Spitzenkandidat ist wichtig, aber ohne die klare Unterstützung seiner Partei ist alles nichts“, hatte Özdemir den Delegierten am Ende seiner Rede mit auf den Weg gegeben. Und es klang nicht flehentlich, sondern ganz schön optimistisch.

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