Lahti will 2025 klimaneutral sein: Die Verwandlung
Im finnischen Lahti wurden einst Handys hergestellt, der Energieverbrauch war hoch. Bis 2025 will der Wintersportort nun klimaneutral sein.
J a, ja, die gute alte Zeit. Auch in Finnland kennt man sie. „Da drüben wurden früher Nokia-Handys hergestellt“, sagt Esa Tepponen und zeigt auf eine nahegelegene Fabrikhalle. „Heute läuft die Produktion längst in China.“ Eine weitere traurige Folge der Globalisierung, könnte man meinen. Doch in diesem Fall folgte auf die gute alte Zeit in gewisser Hinsicht eine noch bessere Zeit: Im finnischen Lahti verrichtet eines der modernsten Müllheizkraftwerke Europas seinen Dienst. „Dass das Gebäude leerstand, war für uns sehr nützlich“, sagt Esa Tepponen, der technische Direktor des Kraftwerks. Heute wird dort Metall sortiert, das später recycelt wird.
Tepponen ist ein Mann, der gerne anpackt. Er hat schon im afrikanischen Dschungel gearbeitet, in China und in Kanada – meist ging es darum, Kohlemeiler aufzubauen, die schnelle, aber klimaschädliche Energie liefern. Als er die Chance erhielt, ein umweltfreundliches Vorzeigeprojekt in seinem Heimatland aufzubauen, musste er nicht lange überlegen.
„Bis vor Kurzem haben wir hier noch Kohle verbrannt“, sagt Tepponen, den Blick auf einen ausgemusterten Kraftwerksblock gerichtet. Er lacht. „Heute ist das ein Museum. Wir versorgen die komplette Stadt mit der Energie, die beim Verbrennen von Biomüll und Plastik anfällt.“ Durch ein spezielles Verfahren werden die Abfälle erst zerkleinert und erhitzt, wodurch ein Gas entsteht, das schließlich verbrannt wird. „Das verdoppelt unsere Effizienz im Vergleich zu anderen Anlagen“, sagt Tepponen. 600.000 Tonnen CO2 habe die Stadt seit 2011 auf diese Weise bereits eingespart.
Es sind solche Projekte, die Lahti zu einem Vorbild machen. Die 120.000-Einwohner-Stadt liegt rund 100 Kilometer nördlich von Helsinki. In Finnland ist sie vor allem für ihre Skisprungschanze und ihr Eishockeyteam, die Pelicans, bekannt. Zusätzlich darf sich die Stadt seit Kurzem „European Green Capital 2021“ nennen; die EU-Kommission hat ihr den Titel verliehen. Die Stadt sei „ein echter Pionier im Bereich der Nachhaltigkeit“, schreibt EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius in seiner Begründung. Denn: „Lahti beschränkt sich nicht auf ökologische Appelle, sondern handelt.“
Europäische Umwelthauptstadt zu sein, ist nicht nur gut fürs Gewissen. Es ist auch ein Standortvorteil, ein touristischer und politischer Faktor. Anträge auf Fördermittel werden leichter; vor Ort lassen sich bestimmte Vorhaben besser umsetzen, wenn man Rückenwind aus Brüssel verspürt. Kein Wunder also, dass in der aktuellen Runde wieder 16 Städte um den begehrten Titel konkurrieren. Viele haben innovative Ideen, manchen aber geht es eher ums Image. Beides zu trennen erweist sich oft als schwierige Aufgabe. Was ist Show, was ist echt? Und was bringt es der Umwelt wirklich? Auch in Lahti ist die Sache kompliziert. Nicht alles ist grün, was glänzt.
Rein optisch besteht erst einmal keine Frage: Lahti ist grün. Am Ufer des Vesijärvi-Sees tummeln sich Radfahrerinnen, Angler, Skater und Spaziergänger gleichermaßen. Die Promenade wird von kleinen Cafés gesäumt, dahinter thront die hölzerne Sibelius-Konzerthalle, in der das CO2-arme Symphonieorchester auftritt. Rund um den See gibt es 16 Badestellen, Spiel- und Grillplätze. Im Sommer, wenn es in Finnland kaum dunkel wird, sitzen die Menschen hier bis spätabends zusammen. Im Winter ist Eisangeln populär – und Eisbaden. Danach folgt die obligatorische Sauna.
Nicht immer ging es am Vesijärvi so idyllisch zu. Bis in die 1980er Jahre war der See derart verschmutzt, dass er nicht einmal als Badegewässer gelistet war. Die Möbel-, Textil- und Holzindustrie boomte; Abwässer und Chemikalien flossen ungeklärt in den See. „Hier gab es keine Fische“, sagt Pekka Timonen, der Bürgermeister. Und ergänzt: „Eine politische Strategie gab es ebenfalls nicht.“ Erst der politische Druck der Einwohner habe zu einer Veränderung geführt – und ein massiver wirtschaftlicher Niedergang. „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren haben wir unseren wichtigsten Handelspartner verloren“, sagt Timonen. Die Holzfabriken schlossen, die Arbeitslosigkeit stieg auf fast 30 Prozent.
Für die Natur hatte der Zusammenbruch etwas Gutes: Das industrielle Niemandsland verwandelte sich Stück für Stück in einen „richtigen“ See mit Badestellen, Wohnhäusern, Cafés und Kultur. Einen solchen Wandel haben viele ehemalige Industriestädte durchgemacht, oft schmerzhaft, aber unvermeidbar. Und manchmal zahlt er sich aus: So wurde etwa die deutsche Stadt Essen 2017 zur Europäischen Umwelthauptstadt gekürt. Die Jury war angetan davon, wie sich das ehemalige Kohlerevier zu einem Freizeitgebiet mit Schnellradwegen und grünen Oasen wandelt.
Lahti hingegen leidet unter einem ungewöhnlichen Problem: Die Renaturierung des Sees ist schon so lange her, dass sich jüngere Leute kaum daran erinnern. „Die meisten Menschen erwarten, dass man in einer Europäischen Umwelthauptstadt etwas Besonderes sieht“, sagt Bürgermeister Timonen. Aber welcher Tourist inspiziert schon die Müllverbrennung oder studiert das Fernwärmekonzept? „Bei uns ist Nachhaltigkeit einfach ein Teil des normalen Lebens“, sagt Timonen, jetzt ganz im Floskelmodus. „Und genau so sollte es auch sein.“
Das ambitionierteste Ziel der Stadt kann man tatsächlich nicht sehen: Klimaneutralität. Schon 2025 soll es so weit sein – ein Vierteljahrhundert früher, als es die EU-Vorgaben vorsehen. Um das zu schaffen, haben sich Kommunalpolitiker, engagierte Bürgerinnen sowie Umwelt- und Wirtschaftsverbände einiges einfallen lassen. Das wohl wichtigste Element: der Einstieg in die Kreislaufwirtschaft. Die Hälfte des Abfalls, der in Lahti anfällt, wird recycelt, die andere Hälfte zur Energiegewinnung genutzt. Nur noch drei Prozent landen auf der Deponie, Tendenz fallend. Wer möchte, kann seinen Abfall in zwölf verschiedene Kategorien trennen.
Noch ehrgeiziger fällt ein anderes Projekt aus: In der Bewerbung zur Green Capital brüsten sich die Verantwortlichen damit, den „weltweit ersten personalisierten Emissionshandel für Einwohner“ eingeführt zu haben. Dahinter steht die Idee, dass nicht nur die Stadtverwaltung CO2 einsparen soll, sondern jeder einzelne Bürger. Wer umweltfreundlich lebt, soll dafür finanziell belohnt werden. Ein solcher Anreiz wäre auf kommunaler Ebene in der Tat revolutionär – wenn es ihn denn wirklich gäbe.
Doch in Wahrheit beschränkt sich der „Emissionshandel“ zunächst einmal auf eine eigens programmierte App fürs Handy. Auch diese ist, das muss man einräumen, schon ziemlich innovativ. Sie erfasst das Mobilitätsverhalten ihrer Nutzerinnen und Nutzer und merkt, ob diese sich zu Fuß, per Fahrrad, Auto oder Bus bewegen. Unterschreitet eine Person ihr wöchentliches Treibhausgas-Budget (17 Kilo), erhält sie im Gegenzug eine Gutschrift, die in Cafés, Fahrradgeschäften und für Bustickets eingelöst werden kann.
Was in der Theorie gut klingt, hat in der Praxis allerdings mehrere Haken. Denn die App funktioniert zwar, wurde nach einer halbjährigen Testphase allerdings wieder abgestellt. Zudem war das Experiment freiwillig und anonym: Die Stadt wollte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, ein alles überwachendes Sozialpunktesystem wie in China einzuführen. Die Freiwilligkeit führte jedoch dazu, dass pro Woche nur 100 bis 150 Personen die App nutzten – nicht gerade eine beeindruckende Anzahl. Zum anderen lief die Projektphase von Mai bis Ende 2020, also mitten in der Pandemie. Die Tatsache, dass der lokale Emissionshandel von Anfang an befristet war, erwähnt die Stadt allenfalls auf Nachfrage. In der Green-City-Broschüre steht es nicht.
Ville Uusitalo hätte gerne noch weitergemacht. Der Wissenschaftler der Technischen Universität von Lahti hat die CO2-App mitentwickelt und betreut. „Die Stadt könnte das Projekt verlängern“, sagt Uusitalo. „Aber dafür müsste sie uns die Mittel bereitstellen.“ Der Betrieb der App und die Auswertungen seien aufwendig und damit auch teuer. Nichts, was eine Universität (selbst mit Partnern aus der Wirtschaft) mal eben so nebenbei stemmen könnte.
Dabei ist Uusitalo überzeugt, dass sein System funktioniert. „Wir haben gesehen, dass die Menschen bewusster unterwegs waren“, sagt der Forscher. Im Durchschnitt generierten die Einwohner von Lahti 21 Kilogramm CO2 pro Woche – die App-Nutzer hingegen nur 12 Kilogramm. „Allerdings haben bei der Auswertung 20 Prozent der Leute angegeben, dass sie geschummelt haben“, räumt Uusitalo ein. Mal blieb bei einer Autofahrt das Handy zu Hause, ein anderes Mal wurde die GPS-Funktion ausgeschaltet. Am Ende meckerte auch noch das Finanzamt: Es sei unklar, ob die Gutscheine nicht einen geldwerten Vorteil darstellten.
„Wir müssten noch einige Details verfeinern“, bestätigt Uusitalo. Doch allein die Tatsache, dass Menschen überhaupt über ihr Mobilitätsverhalten nachdenken und die Ergebnisse live auf dem Handy sehen, sei ein Erfolg. „Meine Hoffnung ist, dass andere Städte auf uns aufmerksam werden und an der App interessiert sind. Es wäre spannend zu sehen, wie das Projekt in anderen Städten angenommen wird.“
Politisch hat das Green-City-Label in Lahti bisher nicht den erhofften Öko-Auftrieb gebracht. Zwar ist die Anschaffung neuer Elektrobusse beschlossene Sache. Das neue Mobilitätskonzept – mehr ÖPNV, weniger Autos – steht aber auf dem Prüfstand, seit im Juni ein neuer Stadtrat gewählt wurde. Die rechtspopulistischen „Wahren Finnen“ (Perussuomalaiset, kurz „PS“) haben ihr Ergebnis verbessert und besetzen nun 10 von 59 Sitzen. Mit neuen Busspuren, höheren Parkgebühren und Zugangsbeschränkungen für Autos kann diese Partei wenig anfangen.
„Die Lokalpolitik will die Menschen zwingen, mehr Fahrrad zu fahren, und gibt dafür viel Geld aus“, schimpft PS-Stadtrat Martti Mäkelä. Er habe nichts gegen Fahrräder. „Aber die Innenstadt muss per Auto erreichbar bleiben, und im Winter ist das Fahrrad hier einfach nicht das Mittel der Wahl.“ Dabei sind es längst nicht nur die Rechtspopulisten, die so argumentieren. Auch viele Einzelhändler fürchten um ihre motorisierte Kundschaft – es ist exakt die gleiche Diskussion, wie sie auch in Deutschland geführt wird.
Für die Organisatoren des Green-City-Jahres macht das die Arbeit nicht leichter. Nach außen müssen sie Lahti als hippe Ökostadt präsentieren, in der alle für mehr Nachhaltigkeit an einem Strang ziehen. Vor Ort aber treten die Differenzen regelmäßig zutage, etwa bei Podiumsdiskussionen zum neuen Mobilitätskonzept. Die Tage der Kohle mögen in Lahti vorbei sein, die Herrschaft des Autos ist es noch nicht.
„In Finnland wird immer mit den riesigen Distanzen argumentiert, für die man ein Auto braucht“, sagt Saara Vauramo, die Programmdirektorin des Green-City-Jahres. „Aber in der Stadt trifft dieses Argument einfach nicht zu.“ Sie selbst fährt fast nur Fahrrad, auch zum Interview kommt sie geradelt. Früher saß sie als Vertreterin der Grünen selbst im Stadtrat, bei der jüngsten Wahl hat sie sich aus Neutralitätsgründen nicht noch einmal aufstellen lassen. Die Europäische Umwelthauptstadt solle schließlich ein Konzept für alle Einwohner sein, nicht nur für Grüne.
Sechs Millionen Euro stehen Vauramos Büro zur Verfügung. Das Geld fließt in Kunstprojekte, Ausstellungen, Sportveranstaltungen und einen Infostand auf dem Marktplatz. Und in Green-City-Banner, die überall in der Stadt hängen. „Keine Sorge, das wird kein Plastikmüll“, erklärt Vauramo pflichtschuldig. „Wir werden sie hinterher zu Tragetaschen verarbeiten.“
Fragt man sie, worin die Vorbildfunktion ihrer Stadt besteht, zählt sie nicht nur den renaturierten See, das Kraftwerk und die CO2-App auf. Ihr geht es vielmehr um die kleinen Gesten: Anwohner, die ein gemeinschaftliches Beet anlegen. Das Symphonieorchester, das nicht mehr fliegt. Das Eishockeyteam, das seine Besucher am Eingang fragt, mit welchem Verkehrsmittel sie angereist sind. „Sogar gestandene Fußballspieler reden plötzlich über Vegetarismus“, sagt Vauramo. „Solche Leute brauchen wir.“ Das sei mehr wert als jede Auszeichnung.
Doch auch bei diesen Beispielen lohnt der Blick ins Detail. Pekka Timonen, der Bürgermeister, schwärmt gerne vom „klimaneutralen Symphonieorchester“ und vom „klimaneutralen Eishockeyclub“ – eine steile These, denn bislang handelt es sich bloß um Absichtserklärungen. Zwar stimmt es, dass sowohl die Musiker als auch die Sportler auf Flüge verzichten, Bäume pflanzen und ihren ökologischen Fußabdruck messen lassen. Vieles bleibt aber im Ungefähren. Zum Beispiel, wie und wann die Treibhausgase kompensiert werden, die durch Strom und Heizung nun einmal anfallen. Oder wann das neue Eisstadion gebaut wird, das mit Solarkollektoren bestückt sein soll.
Der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und das ist nicht nur in Lahti so. In Bristol, der Europäischen Umwelthauptstadt 2015, hat die Stadtverwaltung eine neue Busspur durch einen Wald gebaut. Baumschützer errichteten ein Protestcamp, gewissermaßen die britische Variante des Hambacher Forsts. Am Ende wurde das Camp geräumt und die Straße gebaut, der Zweck heiligte offenbar die Mittel.
Da ist es umso beruhigender, dass es noch Initiativen gibt, die keine Kontroversen auslösen. In Lahti hat Kamran Fakhimzadeh eine Firma gegründet, die sich auf urbane Bienenhaltung spezialisiert. Überall im Stadtgebiet hat der 63-Jährige Bienenstöcke aufgestellt: in Vorgärten, hinter dem Bahnhof, auf dem Dach eines Hotels. Den Honig verkauft er. Was übrig bleibt, verschenkt er an Anwohner.
Anfangs seien viele skeptisch gewesen, sagt Fakhimzadeh. Stechen die Bienen? Sind sie laut? Machen sie Dreck? Mit viel Überzeugungsarbeit und einem sicheren Zaun habe er aber alle Bedenken aus dem Weg räumen können. Inzwischen hat er alleine in Lahti 60 Kolonien angesiedelt, mit jeweils 7.000 bis 10.000 Bienen. „Die Leute sind begeistert und bauen extra Pflanzen an, die gut für die Insekten sind“, sagt der promovierte Agrarwissenschaftler. „Und am Ende freuen sich alle über den Honig.“
Es sind solche Projekte, die der Europäischen Umwelthauptstadt in Finnland ein Gesicht geben, die sie greifbar machen. Auf ihrer Homepage wirbt die Stadt Lahti deshalb gerne mit Fakhimzadeh und seinen Bienen. Extra engagieren musste sie ihn dafür allerdings nicht: Er macht das seit 20 Jahren.
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