Längster Schulweg Deutschlands: Müde auf Rügen
Im bevölkerungsarmen Mecklenburg-Vorpommern fahren Jugendliche stundenlang zur Schule. Eine Busfahrt mit verschlafenen Teenagern.
Im hinteren Busteil sitzen die Jugendlichen wie gestrandet. Fast alle alleine. Auf der letzten Bank zwingen zwei Jungs den anderen ihre Musik auf, drehen laut und dann wieder leiser und beschimpfen sich. „Du Arsch!“ – „Nein, du!“ Ein paar Reihen weiter vorne sitzt Maximilian Schudde, 18, elfte Klasse. Er fährt jeden Tag auf dieser Linie nach Bergen. Mehr als drei Stunden am Tag, 15 in der Woche, sitzt er im Bus. Um 6.06 Uhr, da ist es im Juli schon längst hell und Drosseln singen, ist er in den Bus gestiegen, nun fährt er nach Hause.
Bis der Bus an der Endhaltestelle ankommt, wird es laut Fahrplan noch 40 Minuten dauern. Mecklenburg-Vorpommern hat die längsten Schulwege in Deutschland. Der längste liegt auf der Insel Rügen zwischen Dranske im Nordwesten und dem Hauptort Bergen. Seit 2008 gibt es auf der Insel nur noch dieses eine, das Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es nur noch halb so viele Schülerinnen und Schüler wie nach der Wende, die Hälfte aller Schulen wurde seitdem geschlossen.
Dranske, wo Maximilian Schudde wohnt, liegt im Norden der Landzunge Bug, gegenüber der Insel Hiddensee. Hier gab es mal eine Grundschule, eine Realschule und ein Gymnasium. Alle wurden nach der Wende geschlossen. Die Bushaltestelle liegt vor einer Reihe von Fischerkaten, dahinter stehen die Offiziershäuser der Nazis aus den 1930er Jahren; in einem davon wohnt Maximilian. Auf der anderen Straßenseite Wohnblocks, gebaut für die NVA-Soldaten.
„Muss ja“, sagt der 18-Jährige
Im Unterschied zu den meisten Jugendlichen, die im Lauf der eineinhalbstündigen Fahrt zusteigen, sieht Maximilian, Undercut, schwarzes Kapuzenshirt, nicht todmüde aus. Auf seinen Knien liegt ein Hefter. „Muss ja“, sagt Maximilian auf die Frage, ob er mit seinem ultralangen Schulweg klarkommt. „Aber für die Kleinen tut es mir leid“, sagt er und nickt zu Tom runter, 13, siebte Klasse, der neben ihm sitzt. „Das ist nicht in Ordnung, dass die so lange Bus fahren müssen.“
Maximilian sagt, er gehe rechtzeitig ins Bett, er sei pünktlich, „gibt aber schon viele, die mal zu spät kommen“. Der nächste Bus, der zur zweiten Stunde an der Schule ist, braucht noch länger, fast zwei Stunden.
Einige Reihen vor ihm sitzt Josepha Tredup, 15, neunte Klasse. Auch sie war um 6.06 Uhr an der Haltestelle in Dranske. Sie trägt einen Nasenring und Shorts, für die es fast ein bisschen kalt ist. Sie hört Dat Adam, poppigen Rap von drei Männern Anfang 20. „Zwischen Wolkenkratzern durchs Nightlife“, singen die ihr ins Ohr, während vom Bus aus nur flaches Land zu sehen ist. Mal ein Fischbrötchenstand, mal ein Segelboot, Wald.
Im Dämmerzustand
Der Bus hält in Juliusruh, ein paar Jugendliche steigen aus, die treffen sich nach der Schule manchmal noch am Strand und hängen da ein paar Buslängen ab, bevor sie nach Hause fahren. Ein Neuntklässler, der erzählt hat, dass man sich an alles gewöhnt, auch an den langen Schulweg, ist weggenickt, den Kopf ans Fenster gelehnt.
Die Zeit im Bus ist eine Schleuse zwischen Schule und zu Hause, ein Zwitter aus Pflicht und Freizeit. Man muss nichts mehr. Aber man muss Bus fahren. Der Motor dröhnt, zum Hausaufgabenmachen wackelt es zu sehr, beim Lesen wird einem schnell schlecht. Viele Jugendliche verbringen die Zeit in einer Art Dämmerzustand, zurückgezogen in sich selbst, fast alle mit Stöpseln im Ohr und dem Blick aufs Smartphone.
Im Frühjahr hat die grüne Landtagsfraktion die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, die sie in Auftrag gegeben hatte, um die Schulweglängen in Mecklenburg-Vorpommern zu untersuchen. An vielen Standorten wird die vorgegebene maximale Dauer von 60 Minuten überschritten. Besonders häufig auf Rügen. Zitiert wird eine andere Studie, die einen negativen Zusammenhang zwischen langen Schulwegen in motorisierten Fahrzeugen und schlechten Schulleistungen ergeben hat.
Schülerzahlen steigen
Seit einigen Jahren steigen die Schülerzahlen in Mecklenburg-Vorpommern wieder. Dennoch wurden seit 2007 noch einmal fast 50 Schulen geschlossen – rund neun Prozent aller öffentlichen Schulen.
Die Opposition wirft der Landesregierung vor, den Haushalt auf Kosten der Kinder und Jugendlichen zu konsolidieren. „Ausgerechnet im dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern sind die Hürden für den Erhalt eines Schulstandorts besonders hoch“, sagt Ulrike Berger, bildungspolitische Sprecherin der Grünen. „Bei uns benötigt eine Grundschule im Regelfall mindestens 20 Schüler in der Eingangsklasse. In Brandenburg, Sachsen und Bayern sind es nur 15, in Hessen sogar nur 13. Wir müssen darum dringend unsere Mindestschülerzahlen senken, damit die Entwicklung nicht so weitergeht.“
Schild im Rügener Schulsekretariat
Maximilian und Josephas Schule ist ein Bau aus der Gründerzeit, zehn Minuten Fußweg von der Haltestelle entfernt. Im Sekretariat hängt ein Spruch: „Wer morgens zerknittert ist, hat tagsüber viele Entfaltungsmöglichkeiten.“ Der Rektor und seine Stellvertreterin wollen nichts zum Schulwegthema sagen. Aber im Lehrerzimmer sitzt Jens Basan. Er unterrichtet Englisch und Russisch. „Neulich bin ich mit meiner Frau in der Freizeit mal bis kurz vor Dranske gefahren. Das war weit. Wahnsinn, dass die das täglich zwei Mal machen müssen.“
Nicht nur Kinder aus Dranske sind betroffen. Rügen, Deutschlands größte Insel, ist so groß, dass es in allen Himmelsrichtungen tote Enden an den Buslinien gibt, von denen aus Kinder und Jugendliche stundenlang zur Schule fahren.
Um neun ins Bett
Auf Druck der Elternvertreter wurde ein Konzept erstellt, das vorsieht, dass die Lehrer pro Woche nicht mehr Hausaufgaben aufgeben dürfen, als man in 60 Minuten erledigen kann. Manche halten sich dran, manche nicht. Die Regelung soll den Jugendlichen, die lange zur Schule fahren, wenigstens den Druck nehmen, abends noch Hausaufgaben machen zu müssen.
„Abends“, sagt Josepha, „hänge ich noch ein bisschen rum, wir essen zusammen Abendbrot. Eigentlich müsste ich um 21 Uhr ins Bett gehen, das schaffe ich oft nicht.“ Wenn der Bus pünktlich ist, hat sie noch etwa dreieinhalb Stunden bis zum Schlafengehen. Heute wird es, wie so oft, später. Um 17.55 Uhr hält der Bus in Dranske. Maximilian und Josepha steigen aus. Fast zwölf Stunden zuvor sind sie hier eingestiegen.
Eine Jahrgangskollegin, die mit im Bus sitzt und ein paar Haltestellen früher aussteigt, erzählt, dass eigentlich alles auf Rügen in Bergen stattfinde. Wann immer es gehe, übernachte sie bei Freundinnen in der Stadt. Volleyballspielen am Abend sei nicht mehr drin. Das Training beginne erst um 19 Uhr, „das passt nicht mit den Buszeiten“.
Josepha sagt, dass sie schon mal mit ihren Eltern überlegt habe, ob es nicht möglich wäre, für die Fahrschüler ein Internat in Bergen einzurichten. „Die Politiker interessiert unsere Situation doch gar nicht“, sagt Maximilian.
Signale des Niedergangs
Jede Schulschließung ist immer auch ein Signal des Niedergangs. Keine Turnhallen mehr für Vereine, keine Räume, die auch für andere Veranstaltungen offenstehen. Keine jungen Leute mehr im Ort.
Für Josepha ist der Schulweg Normalität. „Dass wir so lange fahren müssen, ist doof. Aber was soll man machen?“, fragt sie. Auch die anderen Jugendlichen zucken mit den Schultern. So ist es eben. Jens Basan aber, der Lehrer, sagt: „Dass einige lange fahren müssen, während die anderen Freizeit haben, ist vor allem sehr ungerecht.“
Die Frage ist, was man fürs Leben lernt, wenn man als Teenager um 6.06 Uhr in den Schulbus steigen muss. Dass manche abgehängter sind als andere?
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