Kunstprojekt „Made to Measure“: Bis du dich wiedererkennst
Ist es möglich, einen realen Menschen anhand seiner Spuren im Netz nachzubilden? Das Kunstprojekt „Made to Measure“ hat den Versuch gewagt.
Der Ausgang von Experimenten ist offen. Und manchmal können sie auch schiefgehen. Ob das bei „Made to Measure“ der Fall ist, wird hier natürlich nicht verraten. Schließlich ist das Projekt von einer Künstlergruppe namens Laokoon. Und bei dieser Gestalt aus der griechischen Mythologie ist ja auch bis heute nicht ganz klar, was da wirklich gelaufen ist.
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Wie bei jedem Experiment ist auch bei „Made to Measure“ ohnehin eher der Weg das Ziel. Also mitten rein in den (Selbst-)Versuch, den jedeR fortan machen kann. Die Fragestellung ist so simpel wie kühn: Ist es möglich, einen Menschen allein anhand seiner Onlinedaten nachzubilden? Cosima Terrasse, Hans Block und Moritz Riesewieck probieren es aus. Sie sind Laokoon und haben mit Daten schon ihre Erfahrung. Sie haben 2018 „The Cleaners“ gedreht. Einen Film über die armen Schweine, die für Facebook die größten Entgleisungen einfangen sollen.
Jetzt geht Laokoon noch einen Schritt weiter. „Es gibt Studien, die sagen, es lässt sich anhand von Daten und Datenspuren im Netz feststellen, wer ein Mensch ist“, sagt Moritz Riesewieck. Also hat sich Laokoon zum Ziel gesetzt, aus den Daten eines bislang unbekannten Menschen eine Doppelgänger*in zu schaffen und das Leben dieser Person bis ins Detail nachzubauen. Und es dann von einer Schauspieler*in nachspielen zu lassen und zu verfilmen. Im Pandemie-Sommer 2020 hat Laokoon via Social Media Menschen dazu aufgerufen, bei Google und Facebook ihre persönlichen Daten einzufordern. Anschließend gingen diese Daten anonymisiert an das Team. 102 potenzielle „Datenspender*innen“ stellten sich zur Verfügung. Am Ende wurde der Datensatz 25 auserkoren. Was aus „DS25“ wurde und wie das Ganze abgelaufen ist, lässt sich seit Sonntag auf der Website madetomeasure.online mitverfolgen und nacherleben.
Das ist große Datenkunst und unglaublich spannend. Es ist gleichzeitig auch beängstigend und auf faszinierende Weise gruselig. „Wir wissen alle, dass wir getrackt werden“, sagt Laokoon: „Wir wissen aber nicht, welche Daten wir genau hinterlassen. Wir können es auch gar nicht wissen, weil wir keine Kenntnisse darüber haben, wie Google diese Daten miteinander korreliert.“
Hightech ist gar nicht nötig
„DS25“ enthält die Daten von über fünf Jahre Leben eines Menschen – von 2015 bis 2020. Dabei hat sich Laokoon auf die Google-Daten dieser Person beschränkt, die das Unternehmen laut EU-Gesetzgebung herausgeben muss. Das macht mehr als 100.000 Datenpunkte „mit denen du als Privatmensch aber erst mal gar nichts anfangen kannst“, sagt Riesewieck. Daher hat Laokoon mit einer Berliner Datenanalystin zusammengearbeitet, die mit einer semantischen Analyse bestimmte Themen eruiert und Worte oder Suchbegriffe in verschiedene Kategorien und Lebensbereiche eingeteilt hat. Das ist, bezogen auf die heutigen Möglichkeiten, nicht wirklich Hightech.
„Wir wollten zeigen, dass selbst ohne die vermeintlichen Wunderkräfte der künstlichen Intelligenz aus den digitalen Spuren, die jede und jeder von uns im Netz hinterlässt, verblüffend intime Ableitungen gezogen werden können“, umreißt Laokoon den Ansatz. Letztlich fängt auch Google so an, sagt Riesewieck: „Sie haben über 1.000 Kategorien, in den sie jede und jeden von uns einordnen – auch mit sehr sensiblen Sachen wie beispielsweise Interesse am Suizid.“
Auf dieser Grundlage entwickelt Google dann seine Algorithmen. Bei Laokoon übernimmt die Kunst eine Schauspielerin, die in die Rolle einer Doppelgänger*in schlüpft. Wie der Rest des Teams hat auch sie nicht mehr über die Person mit dem Datensatz „DS25“ gewusst als das, was in den Daten stand. Mit diesen rekonstruierte Laokoon Stationen, Gefühle und Krisen der Datenspender*in aus den untersuchten fünf Jahren. Zumindest für Außenstehende wirkt das so eindringlich wie schlüssig.
Aber wie lässt sich überprüfen, ob dieses Leben aus Daten, diese digitale Spurenlese glücken kann? Mit der Konfrontation von Datenspender*in und Doppelgänger*in natürlich. Was etwas anspruchsvoller wird, wenn der Mensch hinter „DS 25“ gar nicht bekannt ist. Laokoon hat aus dem Material Instagram-Clips gemacht und gewartet, bis sich wer wiedererkennt. Ohne spoilern zu wollen: Es hat geklappt, und die Begegnung von Original und ja, was eigentlich? gehört zu den absoluten Höhepunkten von „Made to Measure“. Eine Andeutung sei erlaubt: Wie im echtem Leben geht auch diese Rekonstruktion nicht ohne Rest auf. Denn das Leben ist bunter als die Daten.
Wir sind die Ratten
Wer daraus jetzt allerdings zu viel Trost zieht, schaut bitte unbedingt auch noch die Doku. Hier gehen Laokoon und renommierte internationale Expert*innen der Frage nach, wem das Ganze nützt. Während der Ansatz von „Made to Measure“ künstlerisch-philosophisch ist, geht es bei Google um Kommerz, Kommerz, Kommerz. „Wenn die Menschen wirklich mitbekämen, was Google alles aus ihren Daten ableiten kann, fänden sie das ziemlich unheimlich“, sagt der französische Datenspezialist Guillaume Chabot. „Wir sind sozusagen die Ratten, mit denen sie experimentieren“, so Chabot, der auch für die Bill-and-Melinda-Gates-Foundation arbeitet:
Hinter „Made to Measure“ steht die Kulturstiftung des Bundes und ihr Projekt „Labore des Zusammenlebens“. Gedreht und visualisiert wurde bei PACT Zollverein Essen. Aus dem Material ist neben der „Made to Measure“-Website auch eine gleichnamige Doku entstanden, die ab dem 29. August in der ARD-Mediathek zum Abruf bereitsteht. Sie läuft auch im Fernsehen, im schweizerischen SRF und am 1. September um 22.15 Uhr im WDR.
Die Doku vertieft das an einem sehr eindrucksvollen Beispiel aus einem höchst sensiblen Bereich. Gerade Menschen in Stresssituationen, bei Krankheiten wie Depressionen oder Essstörungen, suchen nach Informationen im Netz. Natürlich werden auch sie dabei getrackt. Eigentlich ist die kommerzielle Nutzung solcher Ergebnisse verboten, doch alle im Film zu Wort kommenden Expert*innen wissen, dass sie trotzdem stattfindet. Wer beispielsweise nach Begrifflichkeiten rund um Essstörungen sucht, wird mit Diättipps und Nahrungsergänzungsmittel-Reklame satt versorgt. Diese Werbung wird also gerade denjenigen gezeigt, für die sie am gefährlichsten ist.
Doch wie das Experiment bleibt auch die Doku nicht in simplem Schwarz-Weiß. So kommt auch der Google-Partner und Online-Anzeigen-Experte Patrick Berlinquette zu Wort. Er ist der Meinung, dass unsere Datenspuren im Netz auch positive Wirkung entfalten können. „Wir müssen mit der Denke aufhören, dass Google ein Werkzeug ist, den Menschen Schrott anzudrehen“, sagt Berlinquette. „Google – das ist die Sammlung der Gedanken der gesamten Welt seit 20 Jahren. Und natürlich wird es benutzt, um den Menschen Schrott anzudrehen. Aber es lässt sich so viel mehr damit machen“.
Er selbst hat es versucht und ein viel beachtetes Essay in der New York Times geschrieben. Denn die Menschen vertrauen Google oft zumindest indirekt an, wenn sie Selbstmord begehen wollen oder einen Amoklauf planen. Kann diese Kenntnis helfen, hier positiv einzugreifen, fragt Berlinquette. Er sagt von sich ganz selbstbewusst, er kaufe Google Ads, um Amokläufe zu verhindern. Und wer nach „Suizid“ im Netz sucht, bekommt dank Berlinquette Werbung angezeigt, die professionelle Hilfe anbietet.
Kann solcher Einfluss am Ende wirklich positiv für die Gesellschaft sein? „Es erscheint erst einmal gruselig“, sagt Moritz Riesewieck, „kann aber Sinn machen, und wir müssen es als Gesellschaft diskutieren.“ Solches „Nudging“ kann Menschen ganz allgemein dazu bewegen, sich für gesellschaftlich erwünschte Maßnahmen und Verhalten zu entscheiden. Das könne zum Beispiel beim Kampf ums Klima helfen, meint Riesewieck. Denn die Antworten aus dem Netz könnten zu klimafreundlicherem Verhalten anregen. Die philosophische Frage, wie so etwas mit der individuellen Selbstbestimmung zusammengeht, muss einstweilen offen bleiben. Eins jedoch ist für Berlinquette wie das Laokoon-Team klar: Die Kontrolle über Daten wie Empfehlungen darf keinesfalls Google allein haben.
Um festzustellen, wie viel Kontrolle und zum Teil intimstes Wissen über jedeN von uns längst existiert, ist die rund einstündige Tour durch die „Made to Measure“-Website ein guter Anfang. Dieser Teil des Experiments ist in jedem Fall gelungen. Wer unterbricht und die Seite schließt, muss übrigens beim nächsten Besuch von vorne beginnen. Denn diese Daten werden ausnahmsweise mal nicht gespeichert.
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