Kunst und Kultur aus der Republik Kosovo: Keine Spannung auf dem Dancefloor
Wer den Nationalismus anprangert, wird angefeindet. Dennoch arbeiten in Prishtina viele Initiativen an einer gesellschaftlichen Öffnung.
Der prachtvolle Nëna Terezë Boulevard im Zentrum Prishtinas ist voller Menschen, auch unter der Woche. Die meisten Passanten hier in der Hauptstadt des Kosovo sind stilbewusst gekleidet. Und jung, mehr als die Hälfte der Einwohnerschaft Prishtinas ist unter 25. Ein Großteil der jungen Leute hat keine Arbeit, der Kosovo gilt als das drittärmste Land Europas.
Die Luftverschmutzung ist hoch, die Autodichte auch, außerhalb des Zentrums liegt Müll in den Straßen. Der Architekturstil bewegt sich zumeist zwischen brutalistischem jugoslawischem Sozialismus, osmanisch beeinflussten Prunkbauten und der funktionalen Architektur vom Ende der Neunziger.
Im Zentrum stößt man auf Denkmäler, sie erinnern an den Nato-Einsatz des Jahres 1999, die paramilitärische UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo) und den verstorbenen Präsidenten Ibrahim Rugova. Graffiti auf Albanisch zieren Hauswände. Einige von ihnen prangern Polizeigewalt an, andere Geschlechterungleichheit, Homophobie oder Klassenungerechtigkeiten.
Hippe und gut besuchte Cafés gibt es viele. Zwischen den Tischen laufen mitunter Straßenhunde umher, auf der Suche nach Essbarem. Aus den Cafés dringt entspannter Housesound. Spätabends pumpt Techno, wie aus dem „Servis Fantasia“, das sich dann vom Café in einen Danceclub verwandelt, oder dem „Bubble“, wo beinahe wöchentlich Dragshows zu sehen sind.
Andere Cafés wie „Dit' e Nat“ (Tag und Nacht) und „Soma“ beherbergen Bibliotheken, mit Werken lokaler Autoren und Musiker. Hier trifft sich die Intelligenz der kosovarischen Hauptstadt zum künstlerischen und politischen Gedankenaustausch. Abends kann man Konzerten und Lesungen lauschen. Viele Menschen sind offen, herzlich und sprechen sehr gutes Englisch und Deutsch.
Der Dialog reißt nicht ab
In einem Café neben dem Nationaltheater sitzt der Dramaturg Jeton Neziraj. Hinter ihm steht eine große Statue von Skanderbeg, des albanischen Militärkommandanten und Nationalhelden aus dem 15. Jahrhundert, daneben plätschert ein Springbrunnen. Der 1977 geborene „Kafka des Balkans“, wie Jeton Neziraj in westlichen Medien schon mal bezeichnet wurde, hat über 25 Theaterstücke geschrieben und auf internationalen Bühnen aufgeführt.
Er war künstlerischer Leiter am Nationaltheater des Kosovo und hat das „Qendra Multimedia“ gegründet, eine Organisation, die Kulturprojekte unterstützt. Und er erlebte den Kosovokrieg hautnah. Sein Dramaturgiestudium beendete er Ende der Neunziger in Kellern, Moscheen und Kirchen, wo er sich vor den Bomben nationalistischer Serben versteckte.
Seit Langem wirkt er auf eine Annäherung zwischen Kosovaren und Serben hin. Auch wenn momentan nach den von den Serben boykottierten Lokalwahlen die Spannungen wieder zunehmen, reißt der Dialog nicht ganz ab. Er besteht fort etwa in Form der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen dem kosovarischen Dramaturgen Neziraj und dem serbischen Regisseur Saša Ilić, sie lernten sich 2008 auf der Leipziger Buchmesse kennen.
Dafür werden beide von radikalen Nationalisten in ihren jeweiligen Gesellschaften angefeindet. Manchmal sind Gegner von ihnen sogar auf die Bühne gesprungen, um Aufführungen zu verhindern. Neziraj bricht in seinen Stücken gerne gesellschaftliche Tabus und wagt es, nationalistische, rassistische oder homophobe Tendenzen innerhalb der kosovarischen Gesellschaft anzuprangern.
Förderungen statt Repressionen
Und er registriert Fortschritte. Wo Neziraj früher noch hätte Repressionen fürchten müssen, unterstützt der kosovarische Staat heute sogar wohlwollend seine progressiven kulturellen Projekte. Schließlich spülen sie Touristen in die Stadt und generieren positive internationale Aufmerksamkeit. Für die Kunstschau „manifesta“ gab es etwa vergangenes Jahr viel Fördergeld seitens der Regierung, und auch andere künstlerische und musikalische Projekte werden immer wieder gefördert, während in Serbien das Gegenteil geschieht.
Davon erzählt er im Café. Jeton Nezirajs Haar ist zerzaust, er trägt einen dunkelgrünen Rollkragenpulli und nestelt beim Sprechen am Perlenarmband herum. Mal wird er in seinem Redefluss von bettelnden Kindern unterbrochen, mal von Bekannten, mit denen er sich kurz auf Albanisch unterhält. Dass man zufällig Bekannte trifft, ist keine Seltenheit, viele kennen sich in der nur etwa 200.000 Einwohner beherbergenden Hauptstadt im jüngsten Land Europas. „Die Kultur in Prishtina lebt vor allem von den jungen Kreativen. Vorrangig treibt es eben diese auch ins Theater, während die Alten den modernen Inszenierungen fernbleiben“, sagt er.
Eine dieser modernen Inszenierungen wird gerade im Oda Theater aufgeführt. „Gadjo“, so ihr Titel, erzählt tragikomisch die Leidensgeschichte einer Roma-Frau im Kosovo. „Ich würde nicht behaupten, dass unsere Kulturszene aufblüht, sie befindet sich eher in einem Normalisierungsprozess. Es gibt lediglich drei Theater in der Hauptstadt. Wir sind gezwungen, in kalten Kellern zu proben, ohne ausreichende Ausstattung“, klagt Neziraj, dennoch blickt er optimistisch in die Zukunft.
Gelenkte Kultur ist langweilig
Auch der kosovarische Philosoph Shkelzen Maliqi sieht eine Verbesserung des Stellenwerts der Kultur, er bemängelt jedoch, dass es nicht genug Möglichkeiten gebe, um junge Talente zu fördern. Zudem würden diese unter den Visabeschränkungen leiden, die es ihnen verunmöglichten, durch Europa zu reisen. 2024 sollen diese Bestimmungen endlich aufgehoben werden.
Außerdem findet Maliqi, dass der Staat sich nicht in die Kultur einzumischen habe, sie lediglich bei ihrer Realisation unterstützen solle. „Wir müssen Kultur mit der Gesellschaft und nicht mit dem Staat verknüpfen“, sagt Maliqi. Vom Staat gelenkte Kultur sei schon immer langweilig gewesen, findet er, irgendwann setze sich die unabhängige immer mehr durch.
Das Techno-Kollektiv Hapësira teilt diese Einstellung. Seit 2015 veranstaltet es Raves in und um Pristina, das brachte ihm breite internationale Anerkennung ein, zum Beispiel 2019 ein Showcase beim Online-TV-Kanal „Boiler Room“ und Berichterstattung in renommierten elektronischen Musikmagazinen. Laut Uran Badivuku, dem DJ und Mitbegründer von Hapësira, nutzt das Kollektiv den Dancefloor als Vehikel für Veränderungen.
Ein Beispiel dafür ist ihr Konflikt mit der Regierung um das „Rilindja Warehouse“, eine ehemalige jugoslawische Druckerei im Stadtzentrum. Das Kollektiv möchte das Gebäude als Basis seiner Comunity erhalten. Es dient auch als Zentrum für andere ähnliche Initiativen.
Die Rockszene ist aktiv
Matale, die mit bürgerlichem Namen Linda Suhodolli heißt, beklagt, dass es kaum Clubs und Veranstaltungsräume gäbe. Sie ist DJ, Teil des feministischen Kollektivs bijat und Nagelkünstlerin unter dem Namen serpent claws. Sie spielt meistens in Bars und legt einen Mix aus Techno und traditioneller albanischer Musik auf. Sie nimmt viele Gigs im Ausland an, manchmal auch in Belgrad. Politische Spannungen gebe es auf dem Dancefloor nicht, sagt sie, „natürlich sind dort fast alle Serben auch gegen ihre Regierung“. Umgekehrt spielen in Prishtina auch manchmal serbische DJs.
Neben der Technoszene existiert in Prishtina eine lebhafte Jazzszene, die Festivals organisiert, auch die kosovarische Rockszene ist sehr aktiv. Bands wie Jericho, ASD und Lindja bestehen bereits seit den Achtzigern, ihr Bestehen überdauerte sogar den Krieg. Petrit Çarkaxhiu ist seit 1997 Gitarrist von Jericho.
Während sie früher in Kellern heimlich proben mussten und dabei in ständiger Angst vor der serbischen Fremdenpolizei waren, tourt er heute mit seiner Band um die Welt. In Albanien, Türkei, England und Kolumbien ist Jericho schon aufgetreten. In Prishtina sind sie bekannt wie bunte Hunde.
Feministischer Aktivismus
Das Magazin Kosovo2.0 dokumentiert seit 2010 auf Albanisch, Serbisch und Englisch die Kulturgeschichte und -gegenwart im Land. Die 1984 geborene Chefredakteurin Besa Luci ist von Anfang an dabei. Sie hat die albanische Rock- und Metalsubkultur Prishtinas während der Apartheid der neunziger Jahre über ihre älteren Schwestern mitbekommen, ist dann selbst kurz nach Kriegsende in Technoclubs gegangen.
„Die Kultur, die wir heute in Prishtina sehen, ist ein direktes Erbe der Neunziger. Das zu dokumentieren hilft uns zu verstehen, wer wir heute sind“, sagt die Feministin. Sie spricht schnell mit kratziger Stimme und raucht dabei. Luci trägt roten Lippenstift, ihre Fingernägel sind rot lackiert. Neben unabhängigem und kritischem Journalismus zur Korruption ist es Kosovo2.0 ein Anliegen, die Rolle von Frauen im Widerstand und in der Kulturszene sichtbar zu machen.
In der Praxis setzt dieses Vorhaben unter anderem das feministische Kollektiv Haveit um. Bestehend aus zwei Schwesternpaaren, begannen sie im Jahr 2011 mit ihrem feministischen Performance-Aktivismus, nachdem eine Frau trotz mehrerer Notrufe bei der Polizei von ihrem Mann ermordet wurde. Femizide sind im Kosovo an der Tagesordnung.
Bei ihrer Performance trugen sie Brautschleier und standen unbeweglich da, während Kunstblut an ihnen hinuntertropfte. Dazu wurden traditionelle Heiratslieder gespielt. Trotz etlicher negativer Reaktionen setzten sie seither kontinuierlich ihren kreativen Aktivismus gegen Misogynie, Homophobie und andere Unterdrückungsformen fort.
In dieser Stadt sind Musik, Theater, Film, Literatur und Kunst unmittelbar miteinander verknüpft und die Beteiligten unterstützen einander. An dem Ort, aus dem auch die berühmten Popsängerinnen Rita Ora, Dua Lipa und Loredana stammen, deutet alles auf einen fortschrittlichen Aufbruch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland