Kritik an Fußball-WM: Unsere Protestnoten
Bei dieser WM in Katar wird demonstriert wie nie zuvor. Wir haben uns die Stärken und Schwächen der Proteste genauer angeschaut. Eine Einzelkritik.
Iranische Fans
Wer protestiert, zeigt Gesicht. Bei den meisten WM-Teilnehmern ist das kein Problem. Mancherorts kann man dafür gar Anerkennung und Lob einheimsen. Die Menschen aus dem Iran dagegen, die sich bei dieser Weltmeisterschaft in Katar mit den Massenprotesten in ihrem Heimatland solidarisieren, bringen nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch ihre Liebsten. In Doha sollen reichlich iranische Spitzel in den Stadien gewesen sein. Dazu kommt das viele Bildmaterial von Menschen, die auf den Rängen mit ihrer Kleidung Botschaften wie „Women, Life, Freedom“ in die Weltöffentlichkeit transportiert haben. Oder Trikots mit dem Namen von Masha Amini trugen, um an ihr Schicksal zu erinnern, das Auslöser für die derzeitigen Unruhen im Iran war.
Wie die Protestierenden im Iran nehmen auch die in Katar ein Risiko auf sich, das weit über das Risiko der anderen Bekenntnisse, die bei dieser WM im Umlauf sind, hinausgeht. Es ist eine Kraft und Verzweiflung dahinter spürbar, die auch das iranische Auswahlspieler nicht unbeeindruckt lassen konnte. Beim Abspielen der Nationalhymne vor der ersten iranischen Partie haben sie kollektiv nicht mitgesungen.
Protestnote: 1+
Palästina-Flaggen
Offiziell dürfen laut Fifa in Stadien nur die Flaggen von WM-Teilnehmerländern geschwenkt werden. Mit dieser überzeugenden Begründung werden etwa Israel-Flaggen verhindert. Die Flagge des Fifa-Mitgliedsverbandes „Palästina“ ist hingegen recht oft zu sehen. Keine politische Äußerung, heißt es, bei der Fifa. Auch dann nicht, wenn „Free Palestine“ gerufen wird.
Protestnote: 6
Mesut-Özil-Protest
Zunächst schwer zu dechiffrieren, was diese Männer in den weißen katarischen Gewändern wollten. Sie hielten zu Beginn der Partie Deutschland gegen Spanien Özil-Portraits in die Höhe. Özil zwinkerte. Erklärung I: Das Protestgrüppchen kritisierte den DFB dafür, 2018 beim Thema Meinungsfreiheit selbst haarsträubende Fehler gemacht zu haben. Entsprechend sei die Aktion gegen „westliche Doppelmoral“ gerichtet, wie der katarische Sender Al-Kass meinte. Erklärung II: Dass Özil Ende 2019 dafür kritisiert worden war, die Unterdrückung der muslimischen Uiguren in China anzuprangern, sei nicht minder bigott vom tugendstolzen Westen. Verantwortlich war damals aber nicht der DFB, sondern Özils ehemaliger Verein, der FC Arsenal, der der sich aufgrund wirtschaftlicher Interessen in China von Özils Äußerungen distanziert hatte.
Protestnote: 3
Faesers Binde
Unübersehbar hat Nancy Faeser ihre „One Love“-Binde getragen. Einmal zog die Bundesinnenministerin bei ihrem Tripp nach Katar schnell ihre Weste aus, damit der solcherart verzierte Oberarm gut sichtbar wurde. Ein anderes mal verwickelte sie auf der Stadiontribüne Gianni Infantino in ein Gespräch, damit der Fifa-Präsident auch gefälligst auf einem solchen Protestfoto landet. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten zogen auch ein paar Sportjournalistinnen – interessant: alles Frauen! – nach und trugen „One Love“-Binde oder ein T-Shirt in Regenbogenfarben.
Protestnote: 4+
DFB-Mund-zu-Dingens
Ein Bild für die Ewigkeit: Elf deutsche Kicker, die in der Wüste von Al-Rayyan etwas sagen wollten, indem sie sich mit der rechten Hand den Mund zu hielten. Nur was? Wir dürfen innerhalb der DFB-Strukturen oder im Mannschaftsrat das Maul nicht aufreißen? Wir sind baff, und ihr werdet spätestens nach dem Costa-Rica-Spiel verstehen, warum? Wir sind in Gedanken bei unserem Jogi Löw, der uns mit seiner Hosen-schnüffel-Geste von anno dazumal inspirierte? Egal, die Geste funktionierte, nur anders als gedacht. Sie wurde nach dem frühen Aus der Germanos verballhornt. Tschö, ihr Schlaumeier, war lustig mit euch!
Protestnote: 5
Englisches Knien
Beinah old-fashioned kommt einem die Geste der Three Lions vor: Die knien vor jedem Anpfiff nieder. Es ist die fast schon klassische Protestform, 2016 vom Footballer Colin Kaepernick erstmals während der US-Hymne angewandt. Für Kaepernick brachte es das Ende seiner NFL-Karriere. Im europäischen Fußball ist der Hinweis, dass es in Amerika Rassismus gibt, weiterhin beliebt.
Protestnote: 3+
Serbiens Kosovo-Flagge
Der Status der Balkan-Republik Kosovo ist, wie es so unschön heißt, „umstritten“. So hing eine serbische Fahne in der Kabine vorm WM-Spiel gegen Brasilien, auf der die Umrisse des Kosovo in den serbischen Farben sowie die Botschaft „Niemals aufgeben“ abgebildet waren. Serbiens Verband musste 20.000 Franken Strafe zahlen.
Protestnote: 4
Die Fifa
Wenn das Fußvolk aus Europa seine Werte unbedingt auf der Kapitänsbinde markieren will, hat sich der Weltverband gedacht, dann machen wir eben ein Gegenangebot. Binden mit Parolen wie „#SaveThePlanet“, „#ShareTheMeal“, „#EducationForAll“ und natürlich „#NoDiscrimination“ dürfen nun bedenkenlos getragen werden. Die Fifa autorisiert Proteste. Eine interessante Idee, aber aus protestkultureller Perspektive indiskutabel.
Protestnote: 6
Der Flitzer
Mit gleich drei Botschaften hatte Mario Ferri den Platz bei der Partie Portugal gegen Uruguay gestürmt. Bäuchlings und rücklings war „Save Ukraine“ und „Respect for Iranian Women“ zu lesen, zudem hielt er in seinen Händen wedelnd eine Regenbogenflagge. Ein Proteststreber, der am liebsten 100 Hände mehr gehabt hätte, um gegen alles Unrecht dieser Welt zu flitzen. Gut gemeint, aber weniger ist manchmal mehr. Das haben Streber ja noch nie verstanden.
Protestnote: 2-
Ronaldo
Dieser Mann lebt den Protest. Niemand schmollt schöner als CR7 – zuletzt auf der Bank. Der Protest des Portugiesen ist obendrein Dialektik in Reinkultur: kindlich und ausgereift. Das ist mein WM-Tor, ich war da dran mit einer Faser meines Körpers, sagt er – was eigentlich recht bescheiden ist. Denn er könnte auch behaupten: Ich war am zehnten Pass vor diesem oder jenem Tor beteiligt, also ist es meins: Kausalitätenkette, logisch. Er sagt auch: Ich reise ab, um sogleich die glorreiche Einheit des lusitanischen Teams zu beschwören. Dieser wunderbare Protestfußballer veredelt divenhafte Sprunghaftigkeit mit einer Zuckerglasur aus süßesten Widersprüchen.
Protestnote: 1-
Bier
Für viele Fans war es eine kalkulierte Zumutung: Fußballgucken ohne Stadionbier! Die Fifa beugte sich dem in Katar geltenden Alkoholverbot, obwohl sie doch sonst bei WM-Ausrichtern die dortigen Gesetze gerne außer Kraft setzt. Sogar gegen den Fifa-Sponsor Anheuser-Busch – ein Unternehmen, das nach Eigenauskunft Bier produziert – ging die Fifa vor. Die US-Firma, gewohnt, dass für sie alle anderen Bierfirmen aus dem Weg geräumt werden, teilte mit, dass sie ihre in leichtes Gold gefärbte Flüssigkeit nach der WM ins Land es Weltmeisters bringen will.
Protestnote: 5
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!