piwik no script img

Kriminologin zu Drogenhandel in Belgien„Irgendwann müssen wir eine offene Debatte beginnen“

Haben Drogenbanden Belgien „unterwandert„und zum „Narco“-Staat gemacht? Kriminologin Letizia Paol plädiert für Differenzierung.

Das Tor zur Welt im Narkostaate Belgien Foto: Olivier Matthys/epa

Interview von

Tobias Müller

Ende Oktober hat eine Untersuchungsrichterin in Belgien für Schlagzeilen gesorgt: In einem anonymen Brief warnte sie – wegen Morddrohungen selbst mehrere Monate untergetaucht – vor Drogenbanden, die „staatliche Einrichtungen unterwandern“ würden. Die „weit verbreiteten mafiösen Strukturen“ zeigten, dass Belgien sich zu einem „Narco-Staat“ entwickele.

Letizia Paoli, Professorin für Kriminologie an der Katholischen Universität Leuven in Belgien, plädiert für Differenzierung.

taz: Frau Paoli, was dachten Sie, als Sie den offenen Brief der Richterin lasen?

Letizia Paoli: Dass es ein guter Brief ist. Ich hoffe, er zeigt Wirkung. Staatsanwälte und Richterinnen müssen angemessenen Schutz erhalten. Wobei ich nicht denke, dass sie anonym arbeiten sollten, wie es der Brief fordert. An­wäl­t*in­nen müssen doch wissen, wer die Rich­te­r*in­nen sind. Stattdessen könnten sie in Teams arbeiten, sodass nicht nur eine Person im Fokus ist. Sonst unterstütze ich den Brief vollkommen. Ich habe aber Zweifel an dem Schluss, dass Belgien ein „Narco-Staat“ wird.

Bild: privat
Im Interview: Letizia Paoli

ist Professorin für Kriminologie an der Katholischen Universität Leuven. Sie forscht seit den 1990ern zu Organisierter Kriminalität, Drogen, illegalen Märkten und Doping. Sie ist President-elect der European Society of Criminology.

taz: Warum?

Letizia Paoli: Der Begriff wird in der belgischen Debatte benutzt, um ein Problembewusstsein zu schaffen und die Politik zum Handeln zu aktivieren. Aber vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist er übertrieben.

taz: Woran machen Sie das fest?

Letizia Paoli: Es gibt drei Hauptkriterien für einen Narco-Staat: ein Niveau drogenbezogener Gewalt, das so hoch ist, dass es das gesellschaftliche Leben beeinflusst; Banden, die in der Lage sind Funk­ti­ons­trä­ge­r*in­nen bis in höchste Ebenen von Politik und Justiz zu korrumpieren; und ein erheblicher Beitrag des Drogenhandels zum Bruttoinlandsprodukt. Keines davon wird in Belgien erfüllt.

taz: Können Sie das erläutern?

Letizia Paoli: Ich habe kürzlich eine Studie veröffentlicht zu den negativen Folgen von Kokainschmuggel in Belgien. Auch 2010 habe ich die Situation untersucht. Der Vergleich zeigt heute zweifellos eine Verschlechterung. Damals fanden wir keinen Mord in Verbindung mit Kokainhandel. Zwischen 2015 und 2024 dagegen gab es sechs in Antwerpen. In anderen Städten, vor allem Brüssel, waren es 2023 und 2024 zusammen 15. Verglichen mit der Gesamtzahl an Morden 2024 – 161– sind das noch immer relativ wenige.

taz: Wie steht es um die Korruption?

Letizia Paoli: Wir sehen einen Anstieg, vor allem im Hafen von Antwerpen und allgemeiner im Logistiksektor. Es gab in den letzten Jahren auch einige Polizeibeamt*innen, die etwa in Datenbanken suchten, ob gerade bestimmte Ermittlungen stattfanden, oder korrupte Zollbeamt*innen, aber keinen Fall auf hoher Ebene, und keine Richterinnen oder Staatsanwälte. Das sind durchaus beunruhigende Tendenzen, aber das Niveau der Korruption ist niedrig.

taz: Und der Anteil am BIP?

Letizia Paoli: Ich arbeite mit einer Ökonomin zusammen und nach unseren Schätzungen trägt der Drogenhandel höchstens 0,2 Prozent zum belgischen BIP bei. Dies stimmt überein mit Schätzungen der belgischen Nationalbank. In einer Studie fanden ein Kollege und ich heraus, dass der Anteil in Tadschikistan 30 Prozent beträgt. Da kann man wirklich von Narco-Staat sprechen. In Belgien kann ein solcher Prozentsatz kaum je erreicht werden, schon deswegen, weil es ein viel entwickelteres Land ist. Selbst zu Cosa-Nostra-Hochzeiten hätte ich auch Italien nicht als Narco-Staat bezeichnet, weil Zweige des Staats nicht korrupt waren, weshalb es auch eine starke Gegenreaktion gab.

taz: Der Fokus in Belgien liegt auf Antwerpen, wegen des Hafens, und auf Brüssel, wo zuletzt regelmäßig Schießereien zwischen Drogengangs stattfanden.

Letizia Paoli: Antwerpen ist als zweitgrößter Hafen Europas traditionell auf Obstimport aus Lateinamerika spezialisiert und damit das Zugangstor für Drogen von dort. In Brüssel kämpfen Gangs in Quartieren wie Anderlecht um die Kontrolle der besten Plätze. In Antwerpen ist Gewalt oft auf Konflikte zwischen Drogenhändlern und ihren Helfern im Hafen zurückzuführen. Letztere bekommen manchmal kalte Füße und wollen damit aufhören, oder eine Lieferung kommt nicht an. Aber die Gewalt wird, wenn man so will, rationaler eingesetzt. Das erklärt, dass es trotz Hunderter Tonnen Kokain, die jedes Jahr ankommen, sechs Morde in zehn Jahren gab.

taz: Warum verlagerte sich der Kokainhandel von Rotterdam nach Antwerpen?

Letizia Paoli: Weil die Kontrollen in Rotterdam stark verschärft wurden. In Antwerpen gab es weniger Containerscans, und sie funktionierten nicht mal. Der Hafen ist auch viel schwieriger zu kontrollieren, der Zugang ist offen, es gibt keinen richtigen Zaun.

taz: Welche Folgen hatte das?

Letizia Paoli: Die Helfer im Hafen, die früher für niederländische Gangs arbeiteten, wurden ab etwa 2010 zunehmend in natura, also mit Kokain bezahlt. Manche machten dann schnell Karriere und wurden selbst zu großen Fischen. Dass es bis 2023 einen großen Anstieg an beschlagnahmtem Kokain gab, kam aber auch daher, dass viel mehr produziert wurde, und dass die belgischen Autoritäten endlich ihre Kontrollen verschärften.

taz: Belgien wird oft als eine Art failed state dargestellt. Ist man dann auch schneller dabei, eine Bezeichnung wie Narco-Staat zu verwenden?

Letizia Paoli: Die Bezeichnung wird wegen der besagten beunruhigenden Trends verwendet – ein Werkzeug in einer internen Debatte, um mehr Geld für die unterfinanzierte föderale Polizei und für das Strafrechtssystem zu bekommen. Als Wissenschaftlerin halte ich das für übertrieben, wir sollten die Nuancen in dieser Debatte nicht aus den Augen verlieren. Und man sollte sich im Klaren sein, welchen Schaden dieses Label der internationalen Reputation Belgiens zufügt.

taz: Entgegen dem Image ist Belgien durchaus gegen den Schmuggel vorgegangen?

Letizia Paoli: Ja. Im Hafen wurden ernsthafte Maßnahmen ergriffen, und dank der Entschlüsselung der Krypto-App Sky ECC Gefängnisstrafen von mehr als tausend Jahren ausgesprochen. Aber selbst das löst das Problem nicht. Das Kokain wird weiterhin kommen. Es sei denn, wir wollen jeden Container kontrollieren. Also werden wir uns nach alternativen Lösungen umsehen müssen.

taz: Wie stehen Sie zur Idee einer Legalisierung?

Letizia Paoli: Sicher ist: Repression alleine wird das Problem nicht lösen. Auch in meinen Studien bestätigt sich, dass viele der schweren Schäden, die mit dem Schmuggel von Kokain und anderer Drogen einhergehen, auf die aktuelle Drogenpolitik zurückgehen. Vor allem natürlich in den Produktions- und Transitländern wie Ecuador, für das die Bezeichnung Narco-Staat inzwischen wirklich zutrifft. Könnte Kokain einfach wie Kaffee aus Lateinamerika gekauft werden, gäbe es die Gewalt und Korruption nicht. Irgendwann müssen wir darüber eine offene Debatte beginnen. Aber ich halte eine Legalisierung von Kokain derzeit nicht für realistisch, nicht einmal eine offene Debatte.

taz: Was schlagen Sie also vor?

Letizia Paoli: Realistisch wäre es, mit Cannabis zu beginnen. Eine moderate, vorsichtige Form von Legalisierung, Modelle wie in Deutschland, der Schweiz oder dem Experiment in den Niederlanden. Dann müssten wir Daten erheben, um zu schauen, ob die Schäden durch den Drogenkonsum nicht exponentiell wachsen. Und dann könnte man überlegen, ob sich einige Lehren vielleicht auf Kokain übertragen lassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare