Kriminelle deutsche Clans: Verfolgungsjagden auf der Autobahn
West- und ostdeutsche Cliquen nutzten das Chaos der Neunziger und das Wegschauen von Behörden und Politik aus und bereicherten sich schamlos.
M ein Vortrag war längst zu Ende und alle Fragen beantwortet, als sich eine Ursula aus dem Publikum meldete, nur um zu sagen, dass sie nicht so gerne nach Duisburg-Marxloh geht. „Sie wissen schon warum“, sagte sie. Und meinte: Wegen den Ausländern dort. Ich sagte etwas Diplomatisches, an das ich mich im Detail nicht mehr erinnern kann und meinte damit eigentlich: Duisburg-Marxloh kann auf Ihren Besuch auch gut verzichten.
Im Hotelzimmer wollte ich dann abschalten. Ich schaltete wie ein Boomer den Fernseher ein und auf dem Spartensender ZDFinfo lief ein Trailer für eine Doku über sogenannte arabische Clans und No-go-Areas, in die sich Ursula bestimmt nicht traut. Die Musik im Trailer suggerierte große Gefahr und kriminelle Energie. Natürlich rauchte jemand Shisha und ein Alman-Experte laberte etwas von „Parallelgesellschaften“, „Ehre“ und so weiter. Die Botschaft: Die sind kriminell wegen ihrer Kultur, ihrer DNA, ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Ich schaute trotzdem weiter und wurde nicht enttäuscht. Nach dem Trailer begann eine Doku zum Thema Wirtschaftskriminalität in den Neunzigern, als westdeutsche GmbHs ostdeutsche Betriebe feindlich übernahmen. Auch bekannt als treuhändische Wiedervereinigung. Ich hätte gerne eine Tüte Popcorn gehabt. Ein Fall war besser als der andere: So ein Alman kaufte die Berliner Wärmeanlagenbau mit dem Vermögen der Wärmeanlagenbau. Wie dreist ist das denn? Er bekam das Unternehmen rübergeschoben und zahlte den Kaufpreis dann aus dem Vermögen der Firma, die er kaufen sollte. In der Doku wird der Typ später dabei gezeigt, wie er in einem Robin-Hood-Kostüm zusammen mit einer Stripperin samt Riesenschlangen seinen Geburtstag feiert.
Kriminalität inhärent in der deutschen Kultur festgeschrieben
Auch nice: Die Geschichte der Bagger-, Bugsier- und Bergungsreederei aus Rostock. Sie hatte volle Auftragsbücher und man hätte sie fit für den Kapitalismus machen können, aber ein Wessi trieb das Unternehmen mit viel krimineller Energie in den Ruin. Ein anderer Typ kaufte die halbe Leipziger Innenstadt auf, obwohl er exakt null Euro Kapital besaß. Die Banken gaben ihm 5,5 Milliarden Euro an Krediten, die er in wenigen Jahren versenkte. Der Alman tauchte in Miami unter, wurde mit internationalem Haftbefehl gesucht und schließlich mithilfe des FBI zurückgebracht.
Diese Geschichten endeten mit Verfolgungsjagden auf der Autobahn, mit verschwundenen Millionenbeträgen auf Konten von Freunden und Familienangehörigen. Sie endeten in der Schweiz oder in Österreich. West- und ostdeutsche Cliquen bereicherten sich schamlos, nutzten das Chaos der Neunziger und die Tatsache, dass Behörden und Politik einfach wegschauten, aus. Die Kriminellen hießen Borchers, Schneider oder Rottmann. Man könnte meinen, dass es sich um organisierte Clans handelt und dass Kriminalität inhärent in der deutschen Kultur festgeschrieben ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku