Kriegsverbrechen in der Ukraine: Straflosigkeit ist keine Option
Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt. Politiker und Juristen fordern ein Sondertribunal, um Putin wegen „Aggression“ anzuklagen.
Hinter der am 14. März lancierten Petition für ein internationales Ukraine-Sondertribunal, die mittlerweile fast 1,4 Millionen Unterstützer weltweit gesammelt hat, steckt der französisch-britische Jurist Philippe Sands aus London. Am vergangenen Wochenende schlossen sich 140 prominente Persönlichkeiten aus aller Welt öffentlich an.
„In Nürnberg haben wir die Nazikriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen – acht Jahrzehnte später müssen wir sicherstellen, dass es für Putin einen Tag der Abrechnung gibt“, schrieb der ehemalige Labour-Premierminister Gordon Brown: „Aggression ist Putins Urverbrechen: die Planung, Initiierung und Verfolgung einer Politik, eine Invasion in die Ukraine zu erklären und durchzuführen.“
Ein internationales Sondertribunal für die Ukraine scheint utopisch, aber das waren alle Sondertribunale, bis es sie gab, von Nürnberg ab 1945 bis zu Den Haag (Exjugoslawien) und Arusha (Ruanda) ab 1995. Laut Sands wurden bereits Kontakte zu möglichen Chefanklägern geknüpft. Er hoffe auf eine förmliche Anklageerhebung gegen Russlands Präsidenten „bis Juni“, sagte er der französischen Zeitung Le Monde.
Der Aufruf ergänzt die Ukraine-Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), die am 2. März eingeleitet wurden. Als Erstes werde ein Team aus Den Haag in die Ukraine reisen, um Fragen der Beweissicherung zu besprechen, gab Chefankläger Karim Khan bekannt. „Es besteht die begründete Annahme, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine begangen worden sind“, sagte Khan und betonte, es gehe um Verbrechen aller Seiten in der gesamten Ukraine.
Ermittlungen im Kriegsgebiet
Zwar sind weder die Ukraine noch Russland dem Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) beigetreten. Doch bereits 2014 und 2015, nach der russischen Besetzung der Krim und Teilen des Donbass, hatte die Ukraine die Zuständigkeit des ICC für sein Staatsgebiet anerkannt – erst für den Zeitraum der Maidan-Proteste und der Revolution 2013/14, dann für den gesamten Zeitraum seitdem.
Auf dieser Grundlage forderten am 2. März 39 Staaten, darunter auch Deutschland, den ICC auf, in der Ukraine tätig zu werden – inzwischen sind es 41. Noch am selben Tag gab Khan die Aufnahme von Ermittlungen bekannt. Es ist das erste Mal, dass das Weltgericht in einem laufenden zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt ermittelt – sonst ging es bisher immer um innerstaatliche Bürgerkriege nach deren Abschluss beziehungsweise in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum.
Dass Russland in der Ukraine gezielt zivile Ziele angreift, steht anhand der Horrorbilder aus Mariupol und anderswo außer Frage. Die wenigen von Russland veröffentlichten Luft- und Satellitenaufnahmen von erfolgreichen Angriffen auf militärische Ziele zeigen, dass Russland seine Angriffsziele präzise identifiziert und ortet.
Der britische Parlamentsabgeordnete John Mercer, ehemaliger Soldat bei den britischen Spezialkräften in Afghanistan, schrieb vergangene Woche nach einem Besuch in der Ukraine: „Ich war mal ein Zielsucher; es war mein Job. Die Marschflugkörper, die nach Kiew hineinfliegen, streifen nicht Hochhäuser auf dem Weg zu einer geheimen ukrainischen militärischen Einrichtung. Sie treffen ihr Ziel: unten in der Mitte des Wohnblocks, oft direkt durch die Haustür. Das sind keine Irrtümer. Es ist das absichtliche Zielen auf Zivilisten in ihren Wohnungen.“
Der syrische Bürgerkrieg war der Erste der Welt, in dem Kämpfe und Angriffe in Echtzeit im Internet verfolgt und dokumentiert wurden. Was als amateurhafte Videoaktivität von „Bürgerjournalisten“ begann, entwickelte sich zu einer hochprofessionellen, weltweit vernetzten Industrie der Verifizierung, Archivierung und Auswertung von Open-Source-Materialien. Führend ist das britische Recherchezentrum Bellingcat, das jetzt mit einer Onlinedokumentation, „Mapping Incidents of Civilian Harm in Ukraine“, mit Anleitungen zum Umgang mit Recherchematerial begonnen hat.
Die BBC-Investigativjournalistin Manisha Ganguly hat aufgelistet, wonach man hauptsächlich sucht: „Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur, die nicht für militärische Zwecke verwendet wird; Angriffe auf geschützte Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen; gewisse Angriffsarten wie der ‚Doppelschlag‘, der auf Ersthelfer zielt; Einsatz bestimmter verbotener Waffen wie Streumunition; Schändung der Leichen gegnerischer Kämpfer oder die Verweigerung einer Chance zur Kapitulation; Schändung ziviler Leichen; sexualisierte Gewalt im Konflikt; Plünderung; Folter; Einsatz von Kindersoldaten; Einsatz chemischer oder biologischer Waffen.“
Solche Beweise zu sammeln ist hoch riskant. Die Einschaltung des ICC bietet dafür die nötige Motivation. Mehrere nationale Behörden, unter anderem die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, haben ebenfalls Ukraine-Ermittlungen angekündigt.
Die meisten Verfahren scheitern
Bisherige Erfahrungen mit Prozessen gegen Kriegsverbrechen zeigen: Am einfachsten gelingt eine Verurteilung bei einer direkten Tatbeteiligung. Je weiter der Beschuldigte von der Tat entfernt ist, desto schwieriger ist es, ihm Verantwortung und Schuld nachzuweisen. In der Realität sind die höchstrangigen mutmaßlichen Täter am weitesten von den konkreten Taten entfernt. Deswegen scheitern die meisten Verfahren gegen Staatschefs oder hohe Generäle manchmal, noch bevor es überhaupt zum Prozess kommt.
Aus dieser Überlegung entstand die Initiative, neben dem ICC ein Sondertribunal einzurichten. Russlands Präsident wegen des Angriffskriegs anzuklagen, ist einfacher, als russische Militärkommandanten für einzelne Verbrechen innerhalb dieses Krieges zur Rechenschaft zu ziehen. Auch ist eine solche Anklage nur außerhalb des ICC möglich, da dieser Russland als Nichtmitglied nicht wegen eines Angriffskrieges belangen kann.
Ob ein Sondertribunal der erfolgversprechendere Weg ist, bleibt offen. Einig sind sich alle Beteiligten jedenfalls über eins: Russlands Krieg gegen die Ukraine darf nicht straflos bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen