Kriegsalltag in der russischen Provinz: Vom Patriotismus ist nichts geblieben
Newjansk am Ural hat bereits einige tote und verletzte Soldaten zu beklagen. Immer weniger Menschen verstehen, wofür in der Ukraine gekämpft wird.
I m eisigen Wind flattern die Fahnen „Wir lassen die Unsrigen nicht im Stich“ oder „Nach uns: die Stille“. Wir laufen mit Iwan (Name geändert), einem 40-jährigen Einwohner von Newjansk, über den verschneiten städtischen Friedhof zwischen frischen Gräbern entlang. Viele Papierblumen sieht man hier, die bunten Plastikkränze sind noch nicht verblasst. Auf fünf Gräbern am Haupteingang stehen fast identische Grabkreuze.
Newjansk ist eine Stadt im Gebiet Swerdlowsk mit etwa 22.000 Einwohnern. Hier befindet sich eine der Hauptsehenswürdigkeiten des Urals, der Schiefe Turm von Newjansk, der vor etwa 200 Jahren, zur Zeit der Fabrikanten Demidow, gebaut wurde.
Die Novaya Gazeta ist Russlands älteste unabhängige Publikation. Nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde sie verboten. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die die Invasion niemals akzeptieren werden. In diesem Dossier veröffentlicht die taz Texte russischer Journalist:innen über das erste Kriegsjahr und seine Folgen für die Welt und für Russland, über die Veränderungen in der russischen Bevölkerung, wofür das Adjektiv „russisch“ heute und in Zukunft steht, und berichten über Menschen, die Widerstand leisten. Die Texte sind auf Initiative der taz Panter Stiftung entstanden und geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Es ist bereits das zweite Dossier mit Texten der Novaya Gazeta Europe in der taz. Das erste ist im Mai 2022 erschienen. Die Texte des ersten Dossiers finden sich hier.
Der Legende nach wurden im Keller des Turms falsche Münzen geprägt, und als jemand zur Kontrolle kam, wurde der Keller geflutet, um das Verbrechen zu vertuschen, und die Arbeiter ertranken. Oft kommen Touristen her, um den Turm anzusehen. Die Stadt ist nicht gerade reich, aber wer will, findet problemlos einen Job. Es gibt ein Gefängnis und mehrere große Betriebe, wie die Newjansker Maschinenbaufabrik, ein Stahlbetonwerk, ein Kraftwerk. Und der städtische Friedhof, auch eine Art Unternehmen, wächst und entwickelt sich ebenfalls in letzter Zeit.
„Wladimir Balandin“, liest Iwan auf einem Grabstein und sieht sich das dazugehörige Foto des Toten an. Er kannte ihn nicht persönlich, aber hat in der Zeitung von seinem Tod gelesen. Wladimir hatte vier Kinder.
Iwan erinnert sich auch an einen anderen Verstorbenen – Igor Mochow, der im Dorf Serbischino in der Region Newjansk begraben wurde. Igor hatte Talent, er vertonte Kindergeschichten. Viele Newjansker kannten und liebten seine Werke.
Iwan meint, wenn man sich die Stadt Newjansk als einen Menschen vorstellt, dann wäre das wohl ein Mann Mitte 40, gutmütig und hilfsbereit, mit einem offenen Gesicht, wie viele Porträts auf diesen Grabkreuzen.
„Ich wurde in Newjansk geboren“, erzählt Iwan. „Ich liebe meine Stadt, sie hat Zukunft, liegt in der Nähe von Jekaterinburg und Nischni Tagil, zwei der größten Städte im Gebiet Swerdlowsk. Hier gibt es viel Entwicklungsspielraum, und wenn das Geld tatsächlich für die Belange der Stadt ausgegeben würde und nicht in die Taschen der Beamten flösse, wäre Newjansk wirklich schön. Meine Freunde haben die Stadt verlassen, und ich werde sehr wahrscheinlich auch wegziehen.
Es gibt hier nur wenige junge Leute, weil weiterführende Schulen fehlen. Die meisten ziehen nach der Schule für eine Berufsausbildung oder zum Studium in größere Städte, nur wenige kommen danach zurück. Ich erinnere mich noch an meine eigene Schulzeit: man steht auf dem Bahnsteig, wartet auf den Regionalzug Jekaterinburg–Nischni Tagil, um einen herum nur junge Leute. Am Wochenende scheint die Stadt aufgebläht und voller Menschen, belebt sich – aber unter der Woche wird sie schmal und schweigsam.“
Ein Mann macht sich Gedanken
Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, dass für die Menschen aus Newjansk die „militärische Spezialoperation“, kurz MSO (Putins euphemistischer Begriff für den Angriffskrieg gegen die Ukraine; d. Redaktion), etwas Patriotisches war. Einige konnten sich gar nicht schnell genug freiwillig zur Armee melden. Er denkt, dass diese patriotische Aufbruchsstimmung mittlerweile vorbei ist.
Nur einer von Iwans Freunden ist bislang freiwillig in die Ukraine gegangen und bis heute dort. Einige andere wurden mittlerweile einberufen.
Iwan, Einwohner von Newjansk
„Ich war aus gesundheitlichen Gründen nicht bei der Armee“, erzählt Iwan. „Aber ich könnte von der zweiten Welle (der Mobilmachung) betroffen sein. Sollten sie mich einberufen, werde ich nicht kneifen. Und auch meine Freunde sagen: Ich werde nicht abseits stehen, wenn sie uns einberufen. Das ist auch eine freundschaftliche Unterstützung für diejenigen, die schon dort sind. Aber mir gefällt dieses ganze Chaos nicht, ich bin nicht für die Ukrainer und ich bin nicht für … Mir gefällt nicht, dass im Februar Kampfhandlungen begonnen haben. Und ehrlich gesagt, obwohl ich die Nachrichten verfolgt habe, habe ich nie genau verstanden, warum.
Am Tag vor dem 24. Februar bin ich mit dem Zug gefahren und habe gesehen, wie ein Güterzug nach dem anderen die Gleise entlangfuhr, alle mit Panzern beladen. Und ich habe noch gedacht: Warum so viele? Ein großes Militärmanöver? Es hat mich gestresst und eine unangenehme innere Kälte verursacht. Aber damals habe ich einfach nicht begriffen, was da passiert.“
Iwan erzählt von einer Verschwörungstheorie: Alles sei wegen „unterirdischer Ressourcen passiert, die vor nicht allzu langer Zeit in der Ukraine entdeckt worden“ seien. Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, dass Russlands Vorgehen im Nachbarland nicht akzeptabel sei.
„Ich habe Freunde in der Ukraine, ich mache mir Sorgen um sie“, sagt er. „Ich erinnere mich daran, wie wir bei der Fußball-WM zusammen vor dem Fernseher saßen und alle zur ukrainischen Mannschaft gehalten haben. In den sozialen Medien sehe ich extrem russophobe Einstellungen auf ukrainischer Seite, aber man darf nicht alle über einen Kamm scheren.“
Echte tote Kerle
Sein Freund ist in den Krieg gezogen, als man im Rahmen der Mobilmachung begann, Frauen als Krankenschwestern einzuziehen. „Er wollte nicht abseits stehen: Ich bin ein Mann und soll zu Hause sitzen, wenn man Mädchen einzieht?“, erinnert sich Iwan. „Er ist freiwillig als Arzt in die Ukraine gegangen. Ich verstehe, dass meine Freunde vielleicht nicht lebend zurückkommen, denn heute gibt es keine Bajonettangriffe mehr wie früher. Einerseits ist es wichtig, ein echter Kerl zu sein. Aber dort kann man sehr schnell zu einem echten toten Kerl werden.“
„195.000 Rubel (umgerechnet gut 2.600 Euro) – das bekommt ein einberufener Soldat. Das ist meiner Meinung nach eine lächerliche Summe. Inzwischen hat man auf 200.000 aufgerundet, aber die Logik, nach der diese Beträge festgelegt werden, erschließt sich mir nicht“, schlussfolgert er. „Warum kann man den Leuten jetzt nicht normale Gehälter zahlen, wenn es im Staatshaushalt solche hohen Beträge gibt? Das ist doch alles eine undurchsichtige Sache. Mein Freund ist aus der Ukraine zurückgekommen, aber bis heute hat er gar kein Geld bekommen.“
Trotz aller Zweifel ist Iwan überzeugt: Wenn der Staat das Kriegsrecht verhängt und es eine allgemeine Mobilmachung gibt, werden die Leute freiwillig in die Wehrämter gehen.
Ein Chefredakteur wird angeklagt
„Es war so ein Gefühl von Kälte auf der Haut“, erinnert sich Jewgeni Konowalow an den 24. Februar. Er ist Chefredakteur der Newjansker Ausgabe der Mestnye Wedomosti (Lokalanzeiger). „Sofort war da ein Gedankenkarussell: Empörung, Nichtwahrhabenwollen und große Scham. Dabei schämte ich mich weniger für die anderen, sondern vor allem für mich selbst. Weil ich in den vergangenen zwanzig Jahren keinen einzigen Text geschrieben hatte, der den Menschen den Wunsch nimmt, in den Krieg zu ziehen.
Ich verstehe bis heute nicht, wie das möglich war. Viele haben doch Familie dort, nahe Angehörige. Ich weiß, dass ich auch entfernte Verwandte in der Ukraine habe, zu denen wir vor über zwanzig Jahren, nach dem Tod meiner Großmutter, den Kontakt verloren haben. Sie sind noch dort, ich erinnere mich noch, wie sie früher zu Besuch kamen. Ich erinnere mich auch noch, wie sie uns Anfang der neunziger Jahre Schulhefte geschickt haben, als es bei uns einfach gar nichts gab. Und wie die ganze Klasse damals über die witzigen Aufschriften in ukrainischer Sprache gelacht hat.
Im April wurde der Chefredakteur der Mestnye Wedomosti gleich dreimal wegen Ordnungswidrigkeiten angezeigt: für zwei Artikel, die in ein und demselben sozialen Netzwerk veröffentlicht worden waren. Einer war überschrieben mit: „Ich möchte nicht, dass unsere Kinder Kanonenfutter werden“ – das war noch im Februar. Konowalow zitierte den Angehörigen eines Soldaten, der in die Ukraine geschickt worden war. Zwei andere Anzeigen gab es wegen eines Artikels im März über die offizielle Stellungnahme des Verteidigungsministeriums, dass der Westen Biowaffen mithilfe von Zugvögeln als sogenannte Biowaffenagenten verbreite.
„Die Polizei hat zunächst nur eine Anzeige gegen mich erstattet“, erinnert sich Konowalow. „Sie haben eine linguistische Expertise der Artikel vorgelegt. Die hatte eine Mitarbeiterin des Inlandsgeheimdiensts (FSB) mit philologischer Ausbildung angefertigt. Das sollte alles vor Gericht vorgebracht werden. Am nächsten Tag rief die Frau vom Revier an und fragte, ob sie noch einmal vorbeikommen könne. Eine einzige Anzeige schien den „Linguisten“ nicht zu genügen.
Konowalow sagt, dass die beiden Richter am Stadtgericht, die ihn verurteilt haben, „einer Debatte nicht abgeneigt waren und sogar Sympathien für ihn hegten“.
Was sie jedoch nicht daran hinderte, den Antrag auf eine unabhängige Prüfung abzulehnen. Für jede Anklage wurde Konowalow zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln (umgerechnet etwa 400 Euro) verurteilt. Jetzt versucht er, die Urteile vor dem Landgericht anzufechten.
Jewgeni Konowalow sagt, dass es nach dem 24. Februar keine Protestaktionen in der Stadt gegeben habe, keinen öffentlich geäußerten Dissens, von einzelnen Posts in sozialen Medien abgesehen.
„Am Anfang war es mir sehr wichtig, ein Stimmungsbarometer in meinem nahen Umfeld zu erstellen, um mich zu vergewissern, dass alle, mit denen ich durchs Leben gegangen war, auf die ich mich verlassen habe, ebenfalls gegen diesen Wahnsinn waren“, erzählt er. „Aber das war leider nicht der Fall. Auch einige Freunde haben mich überrascht, indem sie Dinge im Geiste von ‚Wir können das noch mal machen!‘ (gemeint: siegen wie im Zweiten Weltkrieg; d. Redaktion) posteten.
Fragen nach dem Sinn des Krieges
Einige standen unter Schock, aber warteten auf eine vernünftige Erklärung des Staats. Sie meinten, man sage uns wahrscheinlich einfach nicht alles, denn es müsse für diesen Krieg doch irgendeinen echten Grund geben. Ein Teil von ihnen wartet vermutlich heute noch. Also, seit einem dreiviertel Jahr haben sie noch nichts gehört, was sie als Grund hätte überzeugen können. Aber die überwiegende Mehrheit der mir nahestehenden Menschen war, unabhängig vom Alter übrigens, von Anfang an gegen diesen Krieg.“
In den ersten Kriegstagen fand in Newjansk eine Propagandademo zur Unterstützung der „Spezialoperation“ statt. Die Einwohner der Stadt wurden dazu mit Plakaten aufgerufen, mit einem Text aus dem Lied „Der heilige Krieg“ (bekanntes sowjetisches Lied aus dem Zweiten Weltkrieg; d. Red.). Einer der Hauptaktivisten war der Leiter des Kindersportvereins.
„Es stellte sich heraus, dass sein ‚heiliger‘ Hass zwei Ursachen hatte: die Erinnerungen an seinen Armeedienst, bei dem es Schwierigkeiten mit ukrainischen Vorgesetzten gab. Und die Tatsache, dass seine Schützlinge aus dem Verein, die in der Armee waren, an die vorderste Front geschickt worden waren“, erinnert sich Jewgeni an sein Gespräch mit dem Sportvereinsleiter. „Dann haben auch andere Teilnehmer dieser Demo zugegeben, dass sie gar nicht konkret die Spezialoperation unterstützen, sondern die Jungs, die da hineingezogen wurden.“
Seitdem hat es keine Veranstaltungen dieser Art mehr gegeben, von den großen Sammelaktionen für humanitäre Hilfe für die Einberufenen abgesehen. Auch diese erfolgten übrigens mehr diesen Jungs zuliebe, um deren Chancen, lebend zurückzukommen, zu erhöhen.
Jewgenis Beobachtungen zufolge hat sich die Stimmung in der Stadt seit Februar verändert. Noch vor der Ankündigung der Teilmobilmachung nahm die Zahl der Symbole der „Spezialoperation“ auf den Autos deutlich ab. Sein Nachbar, der Ende Februar „sein ganzes Auto dekoriert“ und einige Videos zur Unterstützung der Spezialoperation aufgenommen hatte, entfernte Ende September alle Aufkleber und löschte sogar die Filme von seinem YouTube-Kanal.
„Was hat sich hier für die Stadt geändert?“, fährt mein Gesprächspartner fort. „Aus den Gesprächen mit der städtischen Verwaltung weiß ich, dass alle großen Projekte, die noch vor dem 24. Februar begonnen wurden, zum Beispiel die Uferbefestigung oder die Schwimmbadsanierung, weitergeführt werden, aber seit dem Frühling deutlich teurer geworden sind. Durch den Preisanstieg bei Baumaterialien wurden zusätzliche Mittel benötigt, unter anderem aus dem städtischen Haushalt. Ich sehe, wie sich unsere Stadtoberen freuen, dass sie im Rahmen dieser Projekte noch hochwertige europäische Maschinen kaufen konnten … Mehrmals habe ich darüber geschrieben, welche Sorgen sich die Direktoren unserer Industriebetriebe machen, die mit ausländischen Maschinen ausgestattet oder auf internationale Absatzmärkte ausgerichtet sind.“
Die Zeitung Mestnye Wedomosti, deren Chefredakteur Konowalow in Newjansk ist, wurde 1999 als privates Medium gegründet, ohne staatliche oder kommunale Beteiligung. Die Zeitung finanziert sich ausschließlich durch eigene Einnahmen. Sie bewirbt sich aber um die Veröffentlichung von Mitteilungen der Stadtverwaltung, die gegen Geld in den Medien platziert werden. Nach Angaben des Chefredakteurs „verzichtet die Redaktion nicht auf eine möglichst objektive Herangehensweise beim Verfassen anderer, auch problematischer Publikationen“. Die Zeitung schreibt auch über diejenigen, die in der Ukraine gestorben sind, und wählt dabei sorgfältig ihre Worte.
Infos bleiben unter Verschluss
Niemand spricht öffentlich darüber, wie viele Menschen in der Region mobilisiert wurden. Weder über die geplante noch die faktische Rekrutierung. Jewgeni erzählt, dass am 29. September, als die meisten Einberufenen die Stadt verließen, fünf Busse, davon vier extra große, vom städtischen Kulturpalast aus losfuhren. Aber außer den Männern aus Newjansk fuhren auch noch Leute aus zwei Nachbarbezirken mit, aus Kirowograd und Werchni Tagil. Etwa ein Drittel dieser Anzahl an Leuten kam noch Ende Oktober dazu, als die Mobilmachung weiterging, obwohl man mit deutlich mehr gerechnet hatte. Aber nach der ersten Welle der Mobilisierung und den ersten Beerdigungen zogen die Menschen wohl ihre eigenen Schlüsse …
Ein Bild des Durchschnittseinberufenen – wer er ist, wie er lebt – kann man heute aus Informationen über die ersten Gefallenen ableiten. Ihre Namen sind in der Stadt bekannt. Es sind in der Regel Männer um die 40, verheiratet, mit mehren Kindern, wertgeschätzt an ihren Arbeitsstellen.
„Wenn man jetzt mit ihren Angehörigen spricht, versteht man: Die wenigsten von ihnen konnten sich vorstellen, dass alles so tragisch verläuft, dass sie schon nach wenigen (!) Tagen an die vorderste Front geschickt würden“, fährt Jewgeni fort. „Die Frauen sagen, angeblich hätten die Männer irgendwelche technischen Arbeiten im Hinterland machen sollen (zumal viele von ihnen darin echte Experten sind), die öffentliche Ordnung aufrechterhalten – ‚ihre Pflicht erfüllen, weitab von der Front‘.“
Keine Ausnahme für Kinderreiche
Unter den Mobilisierten im Stadtbereich Newjansk waren sogar kinderreiche Väter. Für die Rückkehr ihres Mannes, des 39-jährigen Wassili Utjomow, führt Olga Utjomowa aus dem Dorf Zementnij einen ungleichen Kampf mit den Ämtern. Das Paar hat vier Kinder: 18, 17, 15 und 9 Jahre alt.
„Es ist eine ziemlich schreckliche Situation. Nach dem Gesetz gelten wir als kinderreich, weil drei unserer Kinder noch minderjährig sind“, sagt Olga Utjomowa. „Und wenn Kinder nach dem allgemeinen Schulabschluss eine Berufsschule besuchen, ist man sogar kinderreich, bis das Kind 23 ist. Aber bei der Staatsanwaltschaft hat man mir gesagt, dass in Zeiten einer Mobilmachung unsere Familie nicht mehr als kinderreich gilt, sobald das älteste unserer drei minderjährigen Kinder das 16. Lebensjahr vollendet hat.“
Olga erzählt, dass Wassili am 29. September einberufen wurde. Er habe nicht versucht abzuhauen, weil er „pflichtbewusst“ sei und überzeugt davon, dass man ihn zur rückwärtigen Frontverteidigung oder als Fahrer einsetzen würde. Aber nach weniger als zwei Wochen, am 10. Oktober, war er schon in der Ukraine. In den Unterlagen, die sie von der Militärverwaltung bekam, stand, ihr Mann sei erst seit dem 14. Oktober in einem Kampfverband.
Jetzt werde er, der nie in der Armee gedient und keine militärische Ausbildung abgeschlossen habe, dort als stellvertretender Zugführer im Rang eines Unteroffiziers aufgeführt, obwohl man ihn als gewöhnlichen Fahrer einberufen habe.
„Neulich kam zum ersten Mal das Gehalt meines Mannes, mehr als 200.000 Rubel“, sagt Olga, „aber trotzdem schreibe ich weiter Eingaben mit der Forderung, Wassili als kinderreichen Vater nach Hause zu entlassen. Ich selbst kann aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten, und alleine mit den Kindern ist es sehr schwierig. Was sollen wir mit diesem ‚Kriegsgeld‘, wenn mein Mann auch hier gut verdient und dafür nicht sein Leben riskiert?“ Über ihre Einstellung zur MSO, der „Spezialoperation“, möchte Olga lieber nicht sprechen, wie so viele andere Angehörige von Einberufenen auch nicht.
Schwindender Patriotismus
„Unser erster Soldat (aus dem Nachbarkreis Kirowograd) starb während der ersten Tage der MSO“, erzählt Jewgeni Konowalow. „Ende August kamen zwei Jungs aus Newjansk zurück. Das war damals eine echte Tragödie für die Stadt – gleich zwei 200er-Lasten (Codewort für die Rückführung von im Krieg gefallenen Soldaten; d. Red). Da ahnte noch niemand, was anderthalb Monate später passieren würde. Von den Freiwilligen starb einer – ein Junge vom Land. Wie viele von ihnen insgesamt kämpfen, ist schwer zu sagen. Es kommt vor, dass man mit einem Bekannten redet, man sich an jemanden erinnert und sagt, dass man ihn lange nicht gesehen habe, und der Bekannte dann sagt: „Der ist schon seit ein paar Monaten in der Ukraine.“
Weitere zwanzig Menschen gelten als vermisst. Die Mütter und Ehefrauen der Einberufenen haben eine gemeinsame Social-Media-Gruppe gegründet, um sich gegenseitig zu unterstützen.
Wenn einer der vermissten Männer sich doch telefonisch meldet, geben sie die Informationen an die anderen weiter. Wenn möglich versuchen sie, über den Anrufer detaillierter etwas über weitere Vermisste zu erfahren. Man hatte gehofft, die Vermissten beim Rückzug der Truppen vom rechten Dnipro-Ufer nach der Aufgabe von Cherson zu finden. Aber nach einer Umgruppierung war die Liste nur um einige Namen kürzer.
Jewgeni meint, dass nur noch wenige Newjansker an die „Heiligkeit“ dieser „Operation“ glaubten. Die Angehörigen der Eingezogenen sprechen jedenfalls weder von „Nazis“ noch in anderer Weise abfällig über Ukrainer.
„In letzter Zeit bin ich nur einmal wütend auf Ukrainer gewesen“, gesteht Jewgeni. „In der Stadt gab es eine Altpapiersammlung und mit einem Teil des Geldes wollte man die Einberufenen unterstützen. Einer der Angehörigen eines Gefallenen, ein alter Mann, brachte ein paar hundert Kilo Papier mit der Bitte: „Kauft eine Granate dafür und schreibt darauf: ‚Für meinen Neffen!‘“
Die Region Newjansk hat zehn Gefallene bestattet – das kann man an den Gräbern auf dem Friedhof abzählen. Dort wird schon der Platz für die nächsten Beerdigungen vorbereitet. Verwundete gibt es in der Region mehrere Dutzend. Konowalow sagt, dass man einigen von ihnen gesagt habe: „Kuriert euch, ruht euch aus, bald schicken wir euch wieder zurück.“
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