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Krieg zwischen Israel und der Hamas„Schande“, rufen die Protestierenden

Trotz laufender Verhandlungen wollen wohl weder Netanjahu, noch Hamas-Chef Sinwar wirklich einen Geiseldeal. Derweil schreitet Israels Militär in Gaza voran.

Dem Leid der Geisel nachempfunden: Proteste in Tel Aviv Foto: Tsafrir Abayov/ap/dpa

Jerusalem taz | Aus den Reden bei der Demonstration für einen Geiseldeal am Samstagabend auf der Jerusalemer Balfour-Straße klingen Resignation und Verzweiflung – aber auch ein Funken Hoffnung. „Wir brauchen ein Abkommen, jetzt!“, rufen Hunderte vor der Residenz des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu. „Unsere Regierung sieht das Leid der Geiseln und ihrer Familien nicht, wir sind zehn Monate den falschen Weg gegangen, den Weg der Rache“, erklärt etwa die Rednerin Elischewa Baumgarten auf der Bühne. „Buscha“, antworten die Protestierenden, „Schande“.

Die Aussicht auf eine Einigung bei den von den USA, Ägypten und Katar vermittelten Gesprächen um ein Geiselabkommen ließ am Samstagabend erneut Zehntausende Israelis auf die Straße gehen. Bei den Verhandlungen geht es um mehr als die israelischen Geiseln: Erfolg oder Scheitern der Gespräche könnten über einen Gegenschlag der Islamischen Republik Iran entscheiden, den diese nach der gezielten Tötung des Hamas-Anführers Ismael Hanijeh vor knapp drei Wochen in Teheran androhte.

Im Anschluss an den Auftakt der Verhandlungen vergangene Woche hatte sich US-Präsident Joe Biden optimistisch gezeigt: Man sei einer Einigung „näher als je zuvor“, sagt er am Freitag im Weißen Haus. Diese Woche sollen in Kairo noch strittige Fragen in kleineren Gruppen geklärt werden, im Anschluss soll es ein weiteres Treffen der Spitzenvertreter geben. US-Außenminister Antony Blinken wird am Montag zu Gesprächen in Israel erwartet.

Dutzende teils bewaffnete Siedler überfielen am Donnerstagabend ein Dorf im Westjordanland, erschossen einen 23-Jährigen und verletzten einen weiteren Mann schwer

Vieles deutet darauf hin, dass weder die Hamas noch Netanjahu ein klares Interesse an einem Ende des Krieges in Gaza haben. Ein Durchbruch könnte dennoch gelingen, auch weil der Druck auf beide Seiten groß ist.

Netanjahu wird seit langem vorgeworfen, eine Einigung zu erschweren. Zuletzt legte er laut einem Bericht der New York Times eine neue Liste mit Forderungen vor, die über einen schon im Mai vorgestellten israelischen Entwurf für eine Einigung hinausgehen. Er stellt sich damit auch gegen die Spitzen der israelischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsam auf ein Abkommen gedrängt haben. Der Regierungschef bestreitet, die Gespräche zu blockieren. Sein Büro teilte am Samstagabend mit, man hoffe, dass der Druck der Vermittler den „Widerstand der Hamas gegen den US-Vorschlag“ beseitige.

Sorge vor Ausbreitung von Polio in Gaza

Hilfsorganisationen warnen nach dem Auftreten des ersten Polio-Falls in Gaza vor massenhaften Ansteckungen. Polio, auch als Kinderlähmung bekannt, wurde dort eigentlich vor fünfundzwanzig Jahren ausgerottet. Doch seit Beginn des Krieges wurde kaum geimpft, laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind nur noch 86 Prozent der Bevölkerung immunisiert.

Eine sofortige Kampfpause fordern die WHO und das UN-Kinderhilfswerk Unicef. Eine mindestens siebentägige Pause sei nötig, um 640.000 Kinder unter zehn Jahren in Gaza zu impfen.

Ein Brutplatz für das Virus sind die Zeltlager, in denen sich Tausende binnengeflüchtete Palästinenser ohne sauberes Wasser, Abwasser- und Müllentsorgung drängen. Polioviren finden sich häufig in kontaminiertem Wasser. (taz, ap)

56 Prozent der Israelis wollen ein Kriegsende mit Geiseldeal

Das Vorgehen der israelischen Streitkräfte am Wochenende lässt indes keine Deeskalation erkennen: In Gaza erließ sie Evakuierungsaufforderungen für Teile der humanitären Schutzzone und zwang damit viele Menschen, ihren temporären Zufluchtsort wieder zu verlassen.

Dennoch könnte der internationale und interne Druck auf Netanjahu Wirkung zeigen: Dessen erklärtes Ziel vom „totalen Sieg“ war zuletzt selbst von seinem Verteidigungsminister Joaw Galant als „Unsinn“ bezeichnet worden. Einer Umfrage im Juli zufolge befürworten 56 Prozent der Israelis ein Ende des Krieges, wenn damit eine Freilassung aller Geiseln einherginge. 29,5 Prozent sind zumindest für eine Kampfpause, wenn dadurch Geiseln freikommen würden. Zudem weiß auch Netanjahu, dass eine Eskalation mit dem Iran für Israel schwere Schäden und zahlreiche Tote bedeuten könnte.

Negativ auf die Verhandlungen auswirken könnte sich auch der jüngste Gewaltexzess radikaler Siedler gegen Palästinenser im Westjordanland. Dutzende, teils bewaffnet, überfielen am Donnerstagabend das palästinensische Dorf Dschit, erschossen einen 23-Jährigen und verletzten einen weiteren Mann schwer. Videos zeigen, wie Vermummte Autos und Häuser in Brand setzen. Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation Jesch Din hätten die Siedler wie bereits in ähnlichen Fällen unter den Augen der Armee gehandelt, die nicht rechtzeitig einschritt.

Ziel der Hamas: Ausweitung des Kriegs auf die Region

All das dürfte die Hamas kaum zu Zugeständnissen in Verhandlungen bewegen. War die Gruppe bereits zurückhaltend in die Gespräche gestartet, indem sie gar keine eigene Delegation entsandt hatte, wurden ihre Sprecher am Wochenende nicht müde, den Optimismus der USA als überzogen zu bezeichnen. Tatsächlich käme die Drohkulisse eines iranischen Angriffes der Hamas sogar eher entgegen: Eine Ausweitung des Krieges auf die Region gehörte von Anfang an zu den erklärten Zielen des Überfalls am 7. Oktober.

Dennoch will Hamas-Anführer Jahia Sinwar Vermittlern zufolge eine Waffenruhe. Die Zahl der Toten hat in Gaza laut palästinensischen Angaben 40.000 überschritten, Tausende weitere werden unter den Trümmern vermutet.

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20 Kommentare

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  • Ich würde mir wünschen, dass die palästinensische Zivilgesellschaft nach einem Waffenstillstand von ihren Machthabern auch die Chance bekommen würde in Gaza so kraftvoll für Frieden ohne Hass zu demonstrieren. Und das sie die Chance in großer Zahl nutzen würden, um auch ein Zeichen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Palästina zu setzen. Wenn dann auch noch in den anderen arabischen Staaten und im Iran so ein offenes Eintreten für Vielfalt und Meinungsfreiheit möglich wäre, hätte ich viel mehr Hoffnung für die friedliche Zukunft der Region.

  • "56 Prozent der Israelis wollen ein Kriegsende mit Geiseldeal"

    Ich hoffe, diese 56 Prozent haben eine Vorstellung davon, wie es dann weitergehen kann. Ich sehe die Zukunft in Gaza und in der Region äußerst pessimistisch, wenn die Täter des 07.10.23, Herrn Sinwar möchte ich hierbei hervorheben, "einfach so" in die palästinensische Zivilgesellschaft entlassen werden.



    Von der Polizei in Gaza werden sie meiner Einschätzung nach nicht festgenommen und die israelische Seite kann/darf sie, wie ich annehme, auch nicht zur Rechenschaft ziehen, um das Kriegsende nicht zu gefährden.

    Desweiteren weigert sich die Gaza-Hamas-palästinensische Seite auch immer noch zu kommunizieren, über wieviele lebende Geiseln sie verhandeln möchte. Ich gehe davon aus, dass sie eine oder mehrere Geiseln behalten wird, um noch nach Jahren, bei Herrn Schilat waren es ca. fünf Jahre, Forderungen stellen zu können. Es weiß ja niemand, welche Geiseln leben und welche bereits getötet wurden.

    • @*Sabine*:

      Und die zionistisch- israelische-IDF Seite stellt ständig neue Forderungen auf um ein Abkommen zu torpedieren...



      Und wenn die 56% tatsächlich keine Vorstellung haben wie es nach dem Krieg weitergeht, soll der Krieg dann ewig dauern?



      Bis der letzte Palästinenser entweder vertrieben oder getötet ist?

    • @*Sabine*:

      "Ich hoffe, diese 56 Prozent haben eine Vorstellung davon, wie es dann weitergehen kann."

      Haben Sie den Eindruck, dass die israelische Regierung eine Vorstellung davon hat, wie es weitergehen soll?



      Selbst der israelische Verteidigungsminister bezweifelt inzwischen, dass die Hamas vollkommen besiegt werden kann. Das gefällt niemandem, aber ein 'Weiter so', wie es Netanjahu (nicht ganz uneigennützig) anstrebt, wird keine Lösung bringen, sondern nur noch größeres Leid für alle, die palästinensische Zivilbevölkerung genauso wie die israelischen Geiseln.

    • @*Sabine*:

      Für all diese Probleme treffen sich alle möglichen Staatshäupter seit Monaten um dafür Lösungen zu finden. Keine Ahnung, ob die da nur Kaffee trinken oder tatsächlich nach Lösungen suchen.....

      • @Des247:

        Ja, das ist richtig und ich tröste mich oft damit, dass sich glücklicherweise klügere Menschen als ich intensiv darum bemühen, Lösungen zu finden.

  • Hamas hat den Deal abgelehnt. Erneut.



    Weigert sich auch inhaltlich Floskeln des Deals auszuführen.

    "Hamas response

    Last week, the US put forward what it described as a “bridging proposal” in Doha, which said it closed the gaps between Israel and Hamas with regard to a May 31 deal US President Joe Biden unveiled at the White House.

    On Sunday night Hamas rejected the bridging proposal.

    Prime Minister Benjamin continued to press for clarifications to the deal, which the terror group has also rejected."

    www.jpost.com/isra...war/article-815287

    Wer ein Ende des Krieges möchte muss fordern, dass die Geiseln freigelassen werden, dass die arabische Liga sich mit Schutztruppen an der polizeilichen Kontrolle Gazas beteiligt und dass die Hamas und Co Täter*innen vor Gerichte gestellt werden, Nationale oder Internationale, welche öffentliche Aufarbeitung für ihre Verbrechen beinhaltet.

    • @ToSten23:

      An Israel haben Sie keine Erwartungen?

      • @Harmo-Nie:

        Die wurde erfüllt, würde ich mal sagen, denn Israel hat zugestimmt (erzählte Tony Blinken jedenfalls).

  • Die Vielen wollen Frieden.

    Netanyahu, seine rechten Rabauken gar nicht. Bei der Hamas-Garde wohl manchmal so, manchmal so.

    Gefährlicher als Hamas und Iran zusammen ist für Israel der sich jüdisch nennende R*ssismus der rechten Parteien. Der macht zuerst den Ethos, dann die Substanz des Staats kaputt.

    • @Janix:

      Am gefährlichste für Israel auf Dauer ist der weitgehende Verlust jeglicher Sympathie, jeglichen Bonus, den der Staat und die Juden als "einzige Demokratie und einziger Rechtsstaat in der Region" einmal hatte.



      Das erste ist massiv beschädigt, einen funktionierenden Rechtsstaat im Umgang mit Palästinensern -gleichgültig ob Gaza, Westbank oder nicht-jüdische israelische Bürger gibt es offensichtlich schon lange nicht (mehr).



      Das wird das Verhalten gegenüber Israel für Jahrzehnte verändern. Und es wird Auswirkungen auf Juden auch außerhalb Israels haben, die es nicht schaffen, sich von den Taten dieser Administration glaubhaft zu distanzieren...

      • @Monomi:

        Warum sollten Juden in der Diaspora gezwungen werden, sich von "den Taten dieser Administration glaubhaft (!) " zu distanzieren? Wenn sie sich die z.B. nie zu eigen gemacht haben? Sorry, aber



        ihr letzter Satz klingt wie eine Drohung....

      • @Monomi:

        Hoffen wir es nicht, doch denkbar ist es.

        Nebenpunkt: Libanon war auch mal demokratisch, bevor Syrien und Israel, später Iran es sich aufteilten. In Ägypten wurde das Experiment abrupt beendet.

  • Die Bundesregierung sollte dem Rechtsgutachten des International Gerichtshof folgen und den sofortigen Abzug der israelischen Siedler aus dem Westjordanland und Ostjerusalem einfordern.

    • @Timothee Güsten:

      Findest du die Bundesregierung sollte die sofortige Freilassung der Geiseln, die Entwaffnung der Hizbollah und Hamas, die Anerkennung Israels durch Palästinensische und Arabische Staaten und Faktionen fordern?

      Denn anders als das Rechtsgutachten sind all das vom UN Weltsicherheitsrat beschlossene Resolutionen.

      • @ToSten23:

        Die Bundesregierung fordert bereits seit Monaten die Freilassung der Geiseln, ordnet die Hisbollah und Hamas als Terrororganisation ein und erkennt Israel selbstverständlich an. Ob sie andere arabische Staaten zur Anerkennung Israels auffordern sollte? Sehr gerne, in den Grenzen von 1967 und bei der Gelegenheit könnte sie auch Palästina anerkennen.

        Finden Sie die Bundesregierung sollte das Rechtsgutachten vom IGH, dem höchsten UN-Gericht, ignorieren, weil es in Ihren Augen keine Legitimität hat?

      • @ToSten23:

        Ja, vermutlich findet er das auch. Denn das wäre folgerichtig und schließt sich ja nicht gegenseitig aus.

        • @EffeJoSiebenZwo:

          "Ja, vermutlich findet er das auch. "

          Aus der Kenntnis der — wirklich einseitigen — Beiträge des nämlichen Foristen würde ich sagen, eher nein...

  • Netanyahu mag glauben, dass, wenn die letzten Geiseln in Gaza tot sind, die Proteste im eigenen Land gegen den Krieg und seine Regierungspolitik erlöschen werden. Auch dank des barbarischen Hamas-Überfalls samt 7. Oktober gelang es ihm ja, zunächst seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen - man erinnere sich an die Hunderttausende, did. noch im vergangenen Jahr gegen die Justiz“reform“ auf die Straße gingen.



    Dass dieser Krieg in Gaza sein politisches Überleben sichert, daran mag Netanyahu glauben, wie auch seine rechtsextremistischen Spießgesellen glauben, im Windschatten des Krieges ihre grossisraelische (zionistisch-revisionistische) Agenda durchsetzen zu können.



    Hamas bzw. die Bedrohung Israels von außen wird mit diesem Krieg jedoch nicht zerstört oder beendet. Das ist jetzt schon offensichtlich. Stattdessen wird der Konflikt für viele Generationen noch fortgeschrieben. Israels Gesellschaft steht also vor einem Scheideweg.

    • @Abdurchdiemitte:

      "Israels Gesellschaft steht also vor einem Scheideweg."



      Da STAND Israel, bevor wieder Netanjahu ein Kabinett bilden konnte und es mit diesen Rechtsradikalen füllte.



      Jetzt hat es den Scheideweg hinter sich und einen Pfad genommen, auf dem es ein ganzes Stück weit zurück laufen müsste, um eine andere Abzweigung zu nehmen.