Krieg in der Ukraine: Ruhe im Heulen der Sirenen

Die ukrainische Stadt Dnipro nimmt gerade viele Landsleute auf, die aus umkämpfteren Gebieten geflüchtet sind. Die Lage ist entspannter – noch.

Kinder mit ukrainischen Fahnen auf dem Rücken fahren Fahrrad

Fast friedlich: Nur die Fahnen zeugen auf diesem Bild vom Ausnahmezustand. Dnipro am 21. März Foto: Andrea Carrubba/AA/picture alliance

DNIPRO taz | Von Mariupol bis Dnipro sind es 350 Kilometer. Heute verbindet die Straße zwischen den beiden Städten zwei Welten, die durch den Krieg getrennt wurden. In den letzten Tagen hat Dnipro (bis 2016 hieß die Stadt Dnipropetrowsk, Anm. d. Redaktion) mehrere Tausend Flüchtlinge aus Mariupol, Wolnowacha, Sewerodonezk und Wuhledar aufgenommen und sich in einen großen Umschlagplatz für unglückliche, kriegsmüde Menschen verwandelt. Sie haben es geschafft, einer wirklichen Hölle zu entkommen, in die sich ihre Heimatstädte verwandelt haben. Und sie wollen von hier aus weiter – nach Westen.

„Wir sind am 15. März aus Mariupol losgefahren. Bis Saporischschja haben wir lange 14 Stunden gebraucht. Dort haben wir übernachtet, dann sind wir weiter Richtung Dnipro gefahren“, erzählt Olga Gorbatschenko. Sie hat mit ihrer sechsjährigen Tochter fast drei Wochen unter Beschuss verbracht. Noch heute zuckt sie bei jedem scharfen Geräusch zusammen, etwa wenn eine Tür laut zugeschlagen wird oder ein Auto schnell anfährt.

„Wir wurden im Freiwilligenhauptquartier von Dnipro sehr freundlich empfangen. Man hat uns erst einmal etwas zu essen angeboten. Aber das wichtigste war, dass man uns eine Schlafmöglichkeit in einer alten Pension zur Verfügung gestellt hat. Fünf Tage können wir dort kostenlos bleiben. Aber ich glaube, wir halten das gar nicht aus und fahren weiter – nach Westen. Verstehen Sie, ich weiß ja gar nicht genau, ob der Krieg bis Dnipro kommen wird oder nicht. Ich möchte kein Risiko mehr eingehen. Noch ein zweites Mal möchte ich nicht erleben, was ich in Mariupol erlebt habe, ich kann einfach nicht mehr.“

Dieser Meinung sind viele, die heute das relativ ruhige, fast friedliche Dnipro erreichen. Die Stadt ist jetzt ein Transitpunkt zwischen dem lodernden Osten und dem zur Zeit noch friedlichen Westen der Ukraine. „Wir nehmen Tausende Flüchtlinge pro Tag auf. Und wir sind darauf vorbereitet“, erzählt der Leiter der Territorialverteidigung von Dnipro, Gennadi Korban. „Wir haben das Chaos an den Bahnhöfen gemeistert. Jetzt läuft der Prozess der Weiterfahrten organisiert ab.“

Plötzlich Panik

Am 11. März war am Bahnhof von Dnipro plötzlich Panik ausgebrochen. An diesem Tag hatten die russischen Aggressoren am frühen Morgen den Flughafen von Dnipro angegriffen. Auch in eine Schuhfabrik waren Raketen eingeschlagen. Das war der erste Raketenangriff auf die Stadt. Und die Einwohner Dnipros, die auf so eine Entwicklung nicht vorbereitet waren, eilten zum Bahnhof, Menschenmassen verließen die Stadt.

Männer vor einem zerstörten Haus

Aber auch hier schlagen Raketen ein: Aufräumarbeiten in Dnipro am 21. März Foto: Ukrinform/dpa

Die Panik hat sich wieder gelegt. Und zusätzliche Züge nach Westen, deren Zahl mehrfach dringend aufgestockt werden musste, sind jetzt nicht mehr gefragt. Die meisten von ihnen wurden bereits wieder gestrichen, und zur Zeit fahren nur zwei Züge von Dnipro nach Westen – nach Chop (Stadt im Südwesten, im Dreiländereck Ukraine, Ungarn und der Slowakei, Anm. d. Redaktion) und nach Chełm (poln. Stadt zwischen der ukrainischen Grenze und Lublin, Anm. der Redaktion).

Generell sind die Menschen in Dnipro eher ruhigere Ukrainer. Man kann sogar sagen sorglose. Sie reagieren nicht auf das Heulen der Sirenen. Sie beschleunigen dann nicht ihre Schritte. Sie rennen nicht zu Schutzräumen. Auf den Spielplätzen spielen die Kinder bei Sirenengeheul ruhig weiter. Die Flüchtlinge aus Mariupol – und davon gibt es mittlerweile viele in Dnipro – erkennt man vor diesem Hintergrund schon von Weitem. Sobald sie Sirenen hören, gehen sie zum Beispiel in den nächsten Supermarkt und fragen, wo hier ein Keller sei. Die Menschen aus Dnipro reagieren auf diese „Nervösen“ bislang mit Unverständnis. Man will ihnen nur wünschen, dass sie nicht in die Situation kommen, in der sie ihre Verhaltensmuster ändern müssen.

Die Einheimischen sagen, dass bisher nicht so viele Menschen die Stadt verlassen haben, wie zu erwarten gewesen wäre. Gerüchten zufolge sind auch der Oligarch Wiktor Pintschuk und andere Vertreter der Business-Elite des Landes in Dnipro geblieben. Und dies ist nicht der einzige Faktor, der den Menschen in Dnipro ein Gefühl der Sicherheit gibt.

„Ich glaube, es sind vor allem Vertreter der Mittelklasse weggegangen. Einige haben ihre Geschäfte abgewickelt und sich entschieden, den Krieg an sicheren Orten im Westen abzuwarten. Einige sind in die umliegenden Dörfer entlang des Flusses Dnipro gefahren, in der Hoffnung, dass es dort weniger gefährlich ist“, sagt Pjotr aus Dnipro. „Die Menschen hier haben den Krieg noch nicht gesehen und darum möchten sie nur sehr ungern ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Meine reiche Nachbarin wollte auch lange nicht weg. Ich habe sie dann überzeugt, doch zu gehen. Denn die Erfahrung aus Mariupol lehrt, dass es besser ist, auf Nummer sicher zu gehen, und sich nicht in eine Situation zu bringen, in der es einfach nicht mehr möglich ist, wegzugehen.“

Pjotr selber will noch nicht weg. Seine Familie ist in Sicherheit und er hat hier einen Job. Und hofft, dass der Krieg nicht bis Dnipro kommt. Viele in der Stadt denken wie er. Swetlana hatte Dnipro Ende Februar verlassen und war nach Chmelnizki (in der Westukraine, Anm. d. Redaktion) zu ihrer Schwiegermutter gefahren. Aber jetzt ist sie zurück. „Am Anfang habe ich mich von der allgemeinen Panik anstecken lassen“, erzählt sie, „aber dann saß ich in Chmelnizki und dachte: Hier braucht mich niemand, ich habe keine Arbeit. In Dnipro habe ich einen Job und ruhig ist es dort auch. Ich hoffe, dass das so bleibt. Warum sitze ich hier und störe nur? Tja, und jetzt bin ich zurück“.

Die Geschäftsleute, die am 24. Februar massenhaft ihre Läden, Bars und Unternehmen geschlossen hatten, sind zurück

Olga glaubt an die Stärke der städtischen Verteidigung. „Wir haben hier so eine tolle Verteidigung, einfach wow! Sie haben alle Brücken über den Dnipro vermint. Die Territorialverteidigung ist motiviert. Wir haben auch die Fremdenlegion hier. Und auch eine Flugabwehr. Nein, hier kommen die Russen nicht her“, ist sie überzeugt, und wiederholt damit, was der Bürgermeister der Stadt, Borys Filatow, fast jeden Tag in seinen Lagebesprechungen sagt.

Cafés und Restaurants geöffnet

Dieser hatte wirklich Zeit, sich auf die Verteidigung der Stadt vorzubereiten, im Gegensatz zum Stadt­oberhaupt von Mariupol. Aus der traurigen Erfahrung des Amtskollegen hat er gelernt und kümmert sich jetzt in Dnipro aktiv darum, dass die Stadt Lebensmittel- und Trinkwasservorräte für den Blockadefall hat und Luftschutzräume einrichtet. „Die ganze Stadt – die politischen Machthaber, die Wirtschaft und die Bürger – arbeiten zusammen an der Verteidigung Dnipros. Unsere Stadt steht unter dem Schutz der ukrainischen Armee und der Territorialverteidigung“, wiederholt Filatow jeden Tag wie ein Mantra. Und die Leute glauben ihm.

Die Geschäftsleute, die am 24. Februar in einer Welle von Panik massenhaft ihre Läden, Bars und Unternehmen geschlossen hatten, sind zurück. Alle großen Unternehmen außer ArcelorMittal (internationaler Stahlkonzern, Anm. d. Redaktion) haben den Betrieb wieder aufgenommen, sagt Walentin Resnitschenko, der Chef der Dniproer Gebietsverwaltung.

In Dnipro haben Supermärkte, Einkaufszentren, Kosmetiksalons, Sportstudios, Cafés und Restaurants geöffnet. Natürlich nicht so wie vor dem Krieg. Einige Ladeninhaber haben ihre Geschäfte geschlossen und die Stadt verlassen. Aber die meisten Geschäfte sind offen. Und nur Sandsäcke und die zum Teil mit Sperrholz vernagelten Fenster deuten darauf hin, dass der Krieg nahe ist. Der Atem der Stadt wird kühler, aber noch ist er nicht „gefroren“.

Die Stadt ist das sichere Hinterland der Ukraine. Und gebe Gott, dass dies auch weiterhin so sein wird.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

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