Krieg in Äthiopien: Schon jetzt 100.000 Tote
Die Kämpfe Äthiopiens und Eritreas gegen Aufständische in der Region Tigray spitzen sich zu. Die Großstadt Shire ist gefallen – zu einem hohen Preis.
„Die Invasionskräfte haben momentan die Kontrolle über einige Gebiete erlangt, darunter Shire“, erklärte die TPLF und rief die Tigrayer zum „hartnäckigen Widerstand“ auf. Äthiopiens Regierung bestätigte die Einnahme der Orte Shire, Alamata und Korem „ohne städtische Kämpfe“.
Dahinter verbirgt sich ein Drama unbekannten Ausmaßes. Beobachter bezeichneten die Schlacht um Shire zuletzt als die momentan blutigste der Welt, noch vor den laufenden Kämpfen in der Ukraine.
Seit November 2020 befindet sich Tigray im Aufstand gegen Äthiopiens Zentralregierung. Nach einer „humanitären Feuerpause“ im März dieses Jahres flammten die Kämpfe im August wieder auf. Nach anfänglichen TPLF-Erfolgen erlangte Äthiopien die Oberhand dank militärischer Unterstützung aus Eritrea, das Zehntausende Soldaten im Einsatz haben soll.
Blutige Strategie
Mit Äthiopiens Armee im Süden, Eritreas Armee im Norden und Milizen der äthiopischen Region Amhara im Westen wird das zentrale Hochland Tigrays mit der Regionalhauptstadt Mekelle und der Klosterstadt Axum in die Zange genommen. Mehrere Millionen Menschen sind von jeglicher humanitären Hilfe abgeschnitten und permanenten Angriffen ausgesetzt.
Die Eroberung von Shire 40 Kilometer von der eritreischen Grenze entfernt, öffnet nun den äthiopischen und eritreischen Armeen den Weg aus dem Westen Tigrays ins zentrale Hochland. Dafür lieferten sich die verfeindeten Armeen zuletzt in der Region fürchterliche Schlachten.
„Die Aufgabe der äthiopischen Rekruten besteht darin, anzugreifen und in ausreichender Zahl zu sterben, um die Kugeln ihrer Feinde aufzubrauchen, damit danach die eritreischen Kampfverbände durchbrechen und die Städte einnehmen können“, schrieb der erfahrene Regionalanalyst Alex de Waal vergangene Woche. Auch die TPLF erleide „horrende“ Verluste: „Die Tigrayer haben jeden Grund, bis zum Tod zu kämpfen“.
Es kursieren unbestätigte Zahlen von 100.000 Toten oder noch mehr seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, Zivilisten und Soldaten zusammen.
Der Verbleib hunderttausender vom Krieg Vertriebener, die in Shire und anderen Orten Zuflucht gesucht hatten, ist unbekannt. Äthiopiens und Eritreas Armeen, kritisieren Diplomaten und Beobachter, unterscheiden bei ihren Angriffen nicht zwischen TPLF-Kämpfern und Tigrays Zivilbevölkerung. Aus Tigray-Sicht ist damit der Tatbestand des Völkermordes erfüllt.
„Tigray nicht minder wichtig als in der Ukraine“
Mit der Wiederaufnahme der Kämpfe endete auch die „humanitäre Feuerpause“ in Tigray, wo drei Viertel der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe von außen angewiesen sind. Ihre Versorgung, die aufgrund ständiger Behinderungen durch die äthiopischen Behörden nie ausreichend gelungen war, kam damit wieder vollständig zum Erliegen.
Vor zehn Tagen berichtete der britische BBC-Rundfunk aus dem Ayder-Krankenhaus in Mekelle, der größten Gesundheitseinrichtung Tigrays, es gebe keine Medikamente, Impfstoffe, medizinische Materialien oder Insulin mehr. „Wir sagen den Leuten, sie müssen ohne Behandlung nach Hause gehen“, wurde der über WhatsApp kontaktierte Arzt Fasika Amdeslasie zitiert.
Von 115 Dialysepatienten seien bereits 90 „vor den Augen der Ärzte“ gestorben. Die Einhaltung des humanitären Völkerrechts, sagte der Arzt, sei in Tigray nicht minder wichtig als in der Ukraine: „Sind wir keine wichtigen Menschen?“
Ob ein von der Afrikanischen Union (AU) gewünschter Friedensprozess unter diesen Umständen je starten kann, ist ungewiss. Ein erster Termin für direkte Gespräche in Südafrika am 8. Oktober platzte aufgrund diplomatischer Unstimmigkeiten. Nun ist vom 24. Oktober die Rede.
Dass Äthiopien Gespräche „ohne Vorbedingungen“ anbietet, bedeutet allerdings, dass die Angriffe auf Tigray während der Gespräche weitergehen sollen. Die TPLF fordert als Erstes eine Feuerpause. Äthiopien will erst die Kontrolle über Tigrays Infrastruktur erringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen