Krieg im Nahen Osten: Die Risse vertiefen sich
Extremisten schüren den Hass zwischen Israelis und Palästinensern. Am Tag nach dem Krieg ist die Zivilbevölkerung gefragt, den Frieden neu anzutreiben.
W ie sieht der Tag nach dem Krieg aus? Man betrauert die Toten, versucht ein Gefühl von Sicherheit wiederherzustellen in der Hoffnung, dass es vorerst keine neuen Opfer geben wird. Blickt man in diesen Tagen auf den Landstrich zwischen Mittelmeer und Jordan, auf den Schmerz, der die Menschen dort erdrückt, und den Hass, der sich immer mehr ausbreitet, ist es schwer, sich einen solchen Tag vorzustellen.
Und es wird einen solchen Tag auch nicht geben können, wenn nicht eine Bedingung erfüllt ist: Die politischen Führungen auf beiden Seiten müssen ausgewechselt werden. Dass die radikalislamische Hamas in ihrer jetzigen Form nicht weiterexistieren darf, steht seit ihren Gräueltaten vom 7. Oktober außer Frage. Spätestens jetzt ist klar, dass es der Hamas um blutrünstiges Morden geht und die Vernichtung Israels.
Nicht um einen palästinensischen Befreiungskampf und auch nicht um die palästinensische Bevölkerung, die sie weiterhin als zivile Schutzschilde missbraucht. Doch es geht auch nicht ohne einen Regierungswechsel in Israel. Nicht nur, weil die israelische Regierung am 7. Oktober und vor allem im Vorfeld des Überfalls auf fatale Weise versagt hat. Nicht nur, weil sie das Land zerreißt und die Familien der Geiseln im Stich zu lassen droht. Sondern, weil auch sie den Hass schürt, der auf beiden Seiten immer verbitterter wird.
Es ist ein Denken, das nur noch ein „Wir oder die anderen“ kennt. Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, bewaffnet derzeit die jüdische israelische Bevölkerung mit 10.000 zusätzlichen Waffen in gemischten arabisch-jüdischen Städten, in Grenzregionen und in Siedlungen im Westjordanland. Zugegeben: Die wenigen unter den Bewohner*innen der südlichen Kibbuzim und Ortschaften, die am 7. Oktober eine Waffe hatten, haben sich und andere vor den Terroristen schützen können.
Doch eine Bewaffnung der israelischen Zivilbevölkerung in der jetzigen Atmosphäre ist gefährlich. Die Sicherheit muss anders gewährleistet werden: durch die Entmachtung der Hamas, durch die Verhinderung eines erneuten militärischen und geheimdienstlichen Versagens und durch politische Lösungen.
Brutale Polizeigewalt
Fatal ist das brutale Vorgehen der Polizei innerhalb Israels. Ja, es gab die Jubelkommentare auf Facebook, worin palästinensische Israelis die Gräueltaten der Hamas feierten. Das ist widerlich und in diesen Tagen kaum zu ertragen. Doch die polizeiliche Verfolgung geht zu weit, sie trifft auch diejenigen, die schlicht ihren Schmerz über die Bombardierung von Gaza ausdrücken wollen, sie richtet sich auch gegen jüdische Aktivist*innen, die weiterhin gegen die Besatzung protestieren.
Dazu kommen Drohungen aus der Bevölkerung. Aus Angst vor Übergriffen wechselten schon einige linke jüdische Aktivist*innen ihre Wohnungen. Siedler*innen verteilen in palästinensischen Orten im Westjordanland Flugblätter, worin sie die „Große Nakba“ ankündigen, geben den Palästinenser*innen „eine letzte Chance“, das Westjordanland Richtung Jordanien zu verlassen. Sie wollen „jeden Feind vernichten“ und die Palästinenser*innen mit Gewalt vertreiben.
Regierungsmitglieder sprechen sich dafür aus, alle Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen auf die Sinaihalbinsel abzuschieben. Gaza solle ausgelöscht werden. Wie soll ein Zusammenleben der jüdischen und palästinensischen Israelis aussehen, wie soll eine politische Lösung zwischen einer zukünftigen palästinensischen Führung und Israel möglich werden, wenn dieses Denken in alle Ritzen dringt?
Umfragen zeigen, wie sehr die Unterstützung für die israelische Regierung schrumpft. Die Likud-Partei von Regierungschef Benjamin Netanjahu fiele bei Neuwahlen von ihren aktuell 32 auf nur noch 19 Sitze. Die ultrarechten Parteien, die derzeit mit 14 Mandaten die Geschicke des Landes lenken, kämen nur noch auf vier oder fünf Sitze. Vieles hängt nun an der israelischen Zivilbevölkerung. Sie hat in den letzten Monaten bewiesen, wie besorgt und wie wach sie ist, wie viel sie kann.
Wenn sie versteht, dass es nicht nur Demokratie, sondern auch neue Friedensbemühungen braucht – allem Schmerz zum Trotz –, gibt es Hoffnung. Sie hat starke Vordenker*innen in ihren Reihen: palästinensische und jüdische Israelis, die nach wie vor zusammenstehen. Stimmen, die klarer als je zuvor sagen, dass man gegen die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Hamas gleichzeitig kämpfen kann und muss.
Auf dass es den Tag nach dem Krieg geben möge, an dem Tote betrauert werden können in dem Wissen, dass dem Konflikt auf absehbare Zeit keine weiteren Menschen zum Opfer fallen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste