Krankheitswelle in Deutschland: Bis zum Umfallen
Jeder zehnte Deutsche ist derzeit krank. Was heißt das für den Alltag, für den Job, die Kinder, die Familie? Eine Mutter hat für uns Tagebuch geführt.
S onntagmorgen. Pling! In der Team-Signalgruppe schreibt mein Kollege, dass er mit Schüttelfrost und Fieber aufgewacht ist. Die Sonntagsschicht fällt aus, niemand kann einspringen. Ich setze mich an den Rechner und übernehme das Nötigste. Zwei Kolleginnen arbeiten am Abend noch ein bisschen. Nur ein freier Tag am Wochenende, nach einer Woche, in der wir im Team den Ausfall von gleich drei Personen jongliert haben. Hoffentlich wird es nächste Woche besser, dann müssten ja alle wieder gesund sein.
Montag. Alle Kolleg*innen sind da – aber mein dreijähriges Kind ist leicht erkältet. In der Vorwoche hatte es schon einige Kinder in der Kita erwischt. Ich versuche so viel wie möglich wegzuarbeiten.
Dienstag. Das Kind ist nun richtig krank. Mein Freund und ich fangen an, die Tage zu stückeln und uns abwechselnd um es zu kümmern. Wer hat wann Meetings, die man weder absagen noch verschieben kann? Mein Freund muss eine Arbeit pünktlich abgeben. Wir gehen abwechselnd ins Arbeitszimmer, wenn wir nicht am Handy arbeiten oder irgendwo am Laptop, und versuchen, so schnell wie möglich wenigstens die wichtigsten Dinge zu erledigen.
Manchmal weiß ich nicht, ob die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, ein Privileg ist oder der langsame Weg in ein Dasein als Zombie. Wir versuchen alles unter einen Hut zu bekommen. Stück für Stück, Welle für Welle wird die Schwelle, von der an wir sagen, dass es nicht mehr geht, ein Stückchen weiter verschoben. Bin ich seit Beginn der Pandemie um zehn oder nur um fünf Jahre gealtert? Wie viele Jahre geht das noch so weiter? Dabei sind wir zu zweit und haben Bürojobs. Wie unfassbar stressig es für Menschen sein muss, an deren Jobs Menschenleben hängen, deren Kinder in einem lebensbedrohlichen Gesundheitszustand sind oder die das alles allein schaffen müssen, kann ich nur erahnen.
Seit einem Covid-Ausbruch in der Krippe im Frühjahr und meiner eigenen Infektion kämpfe ich mit Long Covid. Monatelange Wiedereingliederung, mir geht’s immer noch nicht gut. In schlechten Phasen arbeite ich mehr oder weniger im Liegen. Stress, schlecht schlafen, Infekte, alles nicht so hilfreich. Mein Freund macht schon fast die komplette körperlich anstrengende Arbeit, Kita-Wege, einkaufen. Ich versuche möglichst viel vom Rechner aus zu machen. Winterklamotten fürs Kind sind bestellt. Der Postdienstleister DHL schreibt, dass wegen Personalausfällen die Lieferungen ein bis zwei Tage später kommen würden. Das ist noch nichts, kürzlich gab es wochenlange Verzögerungen, ein Geburtstagsgeschenk kam nicht an.
Mittwoch. Mittags finde ich mich mit dem fiebernden Kind im Arm auf dem Schaukelstuhl wieder, es ist es zum Glück eingeschlafen. Ich sage die Teilnahme an einer Zoom-Runde ab, die Kolleg*innen antworten mit Kleeblatt-Emojis. Kann ich das Kind ablegen und weiterarbeiten? Hauptsache, es erholt sich. Ich bewege mich lieber nicht, das Kind liegt auf meinem Körper, drei Stunden lang. Dann tauschen mein Freund und ich seine Betreuung, ich arbeite bis 19 Uhr, danach wieder tauschen. Das Kind wacht nachts oft auf, hustet viel und weint dabei vor Schmerzen, will nur im Arm schlafen und wenn das Licht brennt.
Donnerstag. Mein Freund geht mit dem Kind zur Kinderärztin. Ich schiebe danach einen Termin, weil mein Freund gleichzeitig ein anderes Meeting hat. Das wird dann nochmal geschoben, weil das Kind einer Kollegin ebenfalls erkrankt ist und die Mutter braucht.
Wir schreiben uns via Signal, wann wir dem Kind wie viel Ibuprofen-Saft bei wie viel Grad Fieber gegeben haben, um den Überblick zu behalten. Ich versuche online Fiebersaft nachzubestellen. Er ist in keiner Variante lieferbar. Hoffentlich reicht der Rest der Flasche noch für dieses Mal. Tweets aus den USA und Kanada sind in meinem Feed, mit Bildern von leeren Medikamentenregalen, von verzweifelten Eltern, denen Apotheker_innen erklären, wie sie Saft aus Tabletten selbst herstellen können. Eine deutsche Ärztin twittert eine lange Liste an Medikamenten, die gerade nicht mehr lieferbar sind. Eines davon hatte mir geholfen, die Long-Covid-Symptome zu mildern. Das Ersatzmedikament ist ebenfalls nicht mehr lieferbar.
Freitag. Die Woche ist fast herum. Eine Krankmeldung kommt: Schichten am Freitag und am Sonntag fallen aus. Ich habe das Kind am Vormittag und übernehme dann so viel wie möglich Arbeit von der Spätschicht. Das Kind hustet weniger, dafür hat es jetzt Ohrenschmerzen. Ich rede mit Engelszungen auf das Kleine ein, sich Nasenspray geben zu lassen, damit das Ohr belüftet wird. Wir schicken uns wieder gegenseitig Ibuprofen-Nachrichten zu, jetzt ohne Temperaturangaben.
Wochenende. Samstag und Sonntag arbeite ich jeweils zwei Stunden, auch andere Kolleg*innen springen ein, obwohl sie eigentlich arbeitsfrei hätten. Unser Dienstplan ziert viele rote Blöckchen für die ausgefallenen Schichten. Wir haben Wäschedienst in der Kita, zwei Maschinen laufen durch.
Den Infektionsschutz in der Öffentlichkeit aufzugeben, um damit vermeintlich zur Normalität zurückzukehren – das funktioniert nicht mitten in der Pandemie. Familien sind genau deshalb im Ausnahmezustand. In Schleswig-Holstein sollen coronainfizierte Lehrer_innen ohne Symptome weiter unterrichten. Eine Zeitung titelt: „Keine Extrawurst für Schleswig-Holsteins Pädagogen“. Es ist also eine Extrawurst, nicht das Kollegium, die Kinder und somit auch ihre Familien anzustecken?
Montag. In der Kita sind mehr als die Hälfte der Kinder krank. Dafür sind alle Erzieher*innen anwesend. Sie sind sonst häufiger mal krank. Es ist ein Teufelskreis: Um die Kolleg*innen bei der unterbesetzten Arbeit nicht hängen zu lassen, kommen Menschen zurück zur Arbeit, obwohl sie sich noch nicht fit fühlen. Und schon kippt der/die Nächste aus den Latschen, während die ersten noch nicht bei Kräften sind und demnächst wieder erkranken. Unterbesetzung, Stress, die klassischen Kita-Viren, und dazu die Pandemie. Es gibt Tage, da fallen alle aus und der Träger schickt Personal aus anderen Einrichtungen.
Dienstag. Die Berliner Charité macht eine Studie zu Post-Covid, ich bin dabei und in der Kontrollgruppe. Als ich auf dem Rückweg von der Untersuchung die Friedrichstraße entlanglaufe, fühle ich mich wie in einer anderen Welt: Die Menschen gehen in aller Ruhe shoppen, die meisten ohne eine Maske über Mund und Nase. Sie wirken unbekümmert, der Gehweg und die Geschäfte sind voll, die Kranken aber unsichtbar.
Von der gesetzlichen Unfallversicherung sind inzwischen über 275.000 Corona-Infektionen als Berufskrankheit anerkannt worden – und das sind nur die Menschen, die es geschafft haben, die hohe Hürde der Anerkennung zu nehmen. Wie viele weitere Menschen gibt es, die nicht nachweisen konnten, dass sie sich während der Arbeit angesteckt haben? Wie viele weitere haben gar nicht erst versucht, sich die Krankheit anerkennen zu lassen? Wie viele mehr Menschen sind weiterhin krank, tauchen aber in keiner Statistik auf, weil sie sich irgendwie durchschleppen?
Mittwoch. Meine Chefin hat mich angewiesen, keine Vertretungen mehr zu machen und nur noch Leitungsaufgaben zu übernehmen, um meinen Gesundheitszustand nicht noch weiter zu gefährden. Eine Kollegin ist aber immer noch krank.
Eine andere hat ein fieberndes Kind zu Hause und arbeitet trotzdem – sonst würden sowohl Früh- wie Spätschicht ausfallen. Im Chat machen wir Witze darüber, wie wir den kranken Kindern Essens- und Trinkwünsche erfüllen, die wir sonst niemals durchgehen lassen würden, damit sie überhaupt etwas zu sich nehmen. Die Kollegin geht Donuts und Capri-Sonne einkaufen. Mein Kind hat die ganze Woche lang Orangensaft getrunken. Na gut, verdünnten. Das Zähneputzen ist natürlich des Öfteren ausgefallen. Unsere Wohnung überzieht eine Schicht aus Büchern, Puzzlestücken, Steinchen, Figürchen, Kastanien und Krimskrams.
Das Kind geht wieder zur Kita, aber beim Abholen hat es Bauchschmerzen und kann nicht laufen. Wahrscheinlich verschwindet das von allein wieder, aber allein zu wissen, dass die Kliniken überfüllt und unterbesetzt sind, produziert Stress. Täglich beschreiben Menschen aus dem medizinischen Bereich unter #MedizinBrennt, wie katastrophal die Situation in den Kliniken aussieht, für Patient_innen wie Personal, wobei Letzteres mehr und mehr ausbrennt. Während das kleine Kind noch vor Schmerzen weint, ruft der Teenager an. Mein Freund schaut ernst, fragt: „Wo bist Du? Ich komme Dich abholen.“ Ich denke an einen Unfall, aber es ist etwas anderes: Jugendliche haben versucht, den Jungen im Bus auszurauben. Mein Freund fährt los, der Kleine weint weiter. Später verschwinden die Bauchschmerzen. Abends ist der Große krank. Husten, Halsschmerzen, erstmal daheim bleiben. Fast die Hälfte seiner Klasse fehlt.
Es ist erstaunlich, dass das Leben noch einigermaßen funktioniert. Und wie groß das Pflichtgefühl oft ist, das dazu führt, die eigene Gesundheit zurückzustellen. Weil wir unsere Kolleg_innen nicht hängen lassen wollen. Ein Kollege fragt im Intranet, ob sich jemand mit Informationen zu Homeoffice und Kinderkrankentagen auskennt. Er will wissen, inwieweit die Arbeit daheim die Arbeitgeber_innen entlastet, weil man trotz kranker Kinder weiter arbeitet. In der taz erwähnt eine Autorin in ihrem Text über überlastete Kinderkliniken in Berlin, dass ihr Kind gerade mit 39 Grad Fieber schläft. Sie hofft, es schläft sich von allein gesund. Es ist ein beschissenes Gefühl, sich nicht darauf verlassen zu können, dass im Notfall Hilfe kommt.
Donnerstag. Während ich das schreibe, langweile ich mich selbst schon. Wer will das lesen? Das Leben ist seit Beginn der Pandemie so anstrengend, so banal – und doch so zermürbend für Familien, vor allem für solche mit gesundheitlichen Risiken und Alleinerziehende. Ein Deutschlandfunk-Kommentar zur jüngsten Krankheitswelle fordert, bei den Familien den Druck herauszunehmen, denn viele von ihnen würden auf dem letzten Loch pfeifen. „Besser wäre: den Druck an den Schulen rausnehmen, Eltern entlasten. Generell: Wo möglich, einen Gang runterschalten. Zu Hause bleiben, wenn man erkrankt ist, sich erholen“, heißt es da. Man bräuchte Puffer, stattdessen ist der gesamte Alltag auf Kante genäht.
Schon seit Wochen schiebe ich die Erinnerung zur Grippeimpfung im Kalender immer weiter. Der Impfladen befindet sich fast um die Ecke, man müsste nur hingehen. Ich sehe die Influenza-Zahlen. Wann, wenn nicht jetzt, denke ich mir, gebe mir einen Ruck. Am Impfladen sind die Rollläden heruntergelassen. Draußen hängt ein Zettel aus, dass wegen Krankheit geschlossen sei, man hoffe bald wieder öffnen zu können.
Freitag. Der Impfladen ist immer noch geschlossen. „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“, sagte der Leitende Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, Michael Sasse im Norddeutschen Rundfunk. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin spricht von einer „katastrophalen Lage“ auf den Kinder-Intensivstationen. Die Nachricht, dass ungefähr jede_r Zehnte in Deutschland gerade erkrankt ist, beruhigt mich auf eine absurde Art: Die Krise ist real und nicht nur Ergebnis meiner selektiven Wahrnehmung. #MaskenpflichtJetzt trendet. „Eine Maskenpflicht würde definitiv helfen, die Infektionen zu begrenzen“, die derzeit die Kinderkliniken überlasteten, sagt Philippe Stock, Präsident der Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie. Offensichtlich schützen Masken nicht nur vor Covid, sondern auch vor Grippe und der grassierenden Atemwegserkrankung RSV. Wäre das Tragen von Masken wirklich so unzumutbar? Eine kollabierende Gesundheitsversorgung ist doch für alle bedrohlich, niemand ist unverwundbar.
So viele Eltern haben in letzter Zeit Nachrichten von Ausfällen in den Einrichtungen ihrer Kinder gepostet. Bei uns war bisher von ausfallendem Sportunterricht zu späterem Beginn oder früherem Schluss bis zum Totalausfall in Kita und Schule alles dabei. Die Rechtsanwältin Asha Hedayati schreibt auf Mastodon: „unsere kita hat die eltern darum gebeten,kinder zu hause zu betreuen, weil sie kein gesundes personal mehr haben. familien müssen den 3. winter in folge kinder & job bis in den burn-out jonglieren. das trifft vor allem frauen & alleinerziehende. das ist eine politische entscheidung.“ Vielen Eltern bleibt nur noch Zynismus.
Wieder Wochenende. Ich werde definitiv nicht arbeiten. Wir entspannen uns und backen. Am Samstagabend stellen die Kids und ich einem Freund, der mit Covid zu Hause bleiben muss, das Essen vor die Tür. In der Nacht auf Sonntag wacht das Kind um halb zwei Uhr auf. Es weint, hustet und hat Ohrenschmerzen. Um 1.43 Uhr schreibe ich für meinen Freund „2,5 ml ibu“ in den Chat. Ich hake die nächste Woche mental schon ab. Am nächsten Morgen ist das Kind quietschfidel.
Montag. Die Frühschicht meldet sich krank. In meinem privaten Postfach findet sich eine Frage der Kita: ob jemand von den Eltern mit in die Musikschule kommen kann, weil … Der Große fragt mich, ob ich auch einen Ingwershot haben will. Dann spaziere ich zum Impfladen. Er ist geöffnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“