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Krankenhausbewegung in BerlinDie Krankheit heißt Kapitalismus

Timm Kühn
Kommentar von Timm Kühn

Vivantes versucht, die von den Beschäftigten erkämpften Erfolge zu unterlaufen. Das ist so vorgesehen im durchökonomisierten Gesundheitssystem.

Harter Kampf: Vivantes-Mitarbeitende beim Streik im September 2021 Foto: dpa

E s ist eine Platitude geworden zu schreiben, dass diejenigen, die sich in dieser Gesellschaft um die Kranken und Schwachen kümmern, immer nur beklatscht, aber nicht entlastet werden. Es hört aber nicht auf wahr zu sein. Jede noch so kleine Verbesserung müssen sich die Klinikbeschäftigten selbst erkämpfen. Von der Politik kommt so gut wie keine Unterstützung und von den Klinikleitungen erst Recht nicht. Im Gegenteil: Neun Monate nach dem Berliner Krankenhausstreik bekämpft die Chefetage des kommunalen Klinikkonzerns Vivantes immer noch jeden Fortschritt.

Sieben lange Wochen Streik hatten die Beschäftigten der Charité und Vivantes vergangenes Jahr gebraucht, um einen Tarifvertrag Entlastung für die Pflegenden und eine Bezahlung nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) für die Beschäftigten der Tochterunternehmen zu erstreiten. Nach diesem Kraftakt müssen sich die Ar­bei­te­r:in­nen gedacht haben: „Geschafft!“. An diesem Punkt befinden sich derzeit die Pfle­ge­r:in­nen aus NRW, die zuletzt elf Wochen für ihre Entlastung streikten.

Doch der Atem der Ka­pi­ta­lis­t:in­nen ist lang. Eine Niederlage ist für sie nie ein grundlegender Richtungswechsel, sondern nur ein taktischer Rückzug, um unter anderen Bedingungen – und seien es schlechtere – weiter das Maximum aus ihren Ar­bei­te­r:in­nen herauszupressen. Das war schon immer so. Doch in den zweieinhalb Jahren Pandemie wurden die Pfle­ge­r:in­nen derart beklatscht und ihre Arbeitsbedingungen derart bemängelt, dass einige in der Krankenhausbewegung dachten, ihr Streik könnte die Ar­beit­ge­be­r:in­nen zu einem grundlegenden Sinneswandel bewegen.

Dem war nicht so. Wie die Gewerkschaft Verdi beklagt, versucht Vivantes den Tarifvertrag Entlastung in vielen kleinen Trippelschritten zu unterlaufen: Ob durch eine minutengenaue Erfassung der Unterbesetzung, sodass auch ja nicht eine einzige Minute zu viel entlastet wird; ob durch Stationsleitungen, die sich so eintragen, dass Mindestbesetzungen formal hergestellt werden; ob durch geschicktes Personal-hin-und-her-Geschiebe oder dadurch, dass jedes Wort im Vertrag umgedreht wird, um manche Berufsgruppen doch noch aus den Verbesserungen auszuschließen – nichts wird gegönnt. Alles was bekämpft werden kann, wird auch bekämpft, heißt es aus der Krankenhausbewegung.

Es greift zu kurz, die Moralkeule nur in Richtung Vivantes zu schwingen.

Noch schlimmer sieht die Situation bei den Tochterunternehmen aus, die ohnehin nur gegründet wurden, um die Löhne drücken zu können. Laut Verdi versucht Vivantes die Belegschaft zu spalten. In den Nachverhandlungen wäre einem Teil der Beschäftigten ein besseres Angebot gemacht worden. Alle anderen würden zwar nicht leer ausgehen, erhielten aber deutlich weniger. Auch für neue Beschäftigte würden manche Verbesserungen nicht gelten. Statt gleichem Lohn für gleiche Arbeit schafft Vivantes also einen Tarifdschungel, der so viel Verwirrung und Frustration in der Belegschaft stiftet, dass die Klinikleitung mit dem Plan sogar durchkommen könnte.

Auch die Pfle­ge­r:in­nen in NRW sollten sich notieren: Der Konflikt hört mit dem Streikerfolg nicht auf. Tatsächlich wird der Kampf so lange weiter gehen, bis der Kapitalismus endgültig aus den Kliniken vertrieben wurde.

Das System ist eigentlich für niemanden gut

Dass dieser dort ohnehin nichts zu suchen hat, wissen wohl auch die Klinikleitungen – insbesondere die der kommunalen Krankenhäuser. Sie wissen um ihre eigene Unterfinanzierung, die sie dazu zwingt, für Personalkosten gedachte Kassengelder zur Instandhaltung ihrer Gebäude zweckzuentfremden. Sie wissen, wie sie ihre Ar­bei­te­r:in­nen dazu treiben müssen, mehr Pa­ti­en­t:in­ in kürzerer Zeit zu behandeln. Sie wissen, dass dieses System weder gut ist für die Patient:innen, noch für die Arbeiter:innen, noch für die Gesellschaft und auch nicht für ihren eigenen Seelenfrieden. Doch sie sind in die Zwänge des Kapitals eingebunden, aus denen sie nur die Politik befreien kann.

Es greift deshalb zu kurz, die Moralkeule in Richtung Vivantes zu schwingen. Denn der Skandal ist nicht nur, dass sich die Klinikleitungen verhalten wie Kapitalist:innen, sondern auch dieses Gesundheitssystem, welches die Klinikleitungen dazu zwingt, sich wie solche zu verhalten. Mitverantwortlich für diese Misere ist also die Politik: Die rot-grün-rote Landespolitik, aber im besonderen Maße Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der sich einfach weigert, das Gesundheitssystem endgültig und konsequent zu entökonomisieren.

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Timm Kühn
Redakteur
Schreibt seit 2020 für die taz über soziale Bewegungen, Arbeitskämpfe, Kapitalismus und mehr.
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3 Kommentare

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  • Was ist ein „entökonomisiertes Gesundheitssystem“?



    Als einer von 50 Millionen Beitragszahler werden ich bei solchen unklaren Schlagwörtern hellhörig. Noch höhere Beiträge (direkt oder über die Steuern)?

    • @alterego:

      Nein, ein staatlich finanziertes Gesundheitssystem wie in England oder Schweden. Diese Gesundheitssysteme sind vorbildlich, bis auf die Termine für Diagnostik und Therapie.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    "Die Krankheit heißt Kapitalismus"

    Kurz und knapp völlig richtig beschrieben.



    Wählt weiter die etablierten Parteien. Ändern wird sich nichts.