Pfleger über Tarifvertrag Entlastung: „Das bedeutet: Ich bleibe“

Tobias Wendker macht eine Ausbildung zum Pfleger in Münster. Über elf Wochen streikte er mit Kol­le­g*in­nen für einen Tarifvertrag Entlastung – mit Erfolg.

Menschen auf einer Demo mit dem Transparent "Ausbildung statt Ausbeutung"

Auszubildende in NRW haben mitgestreikt, denn die Probleme sind von Anfang an spürbar Foto: Christian Knieps/dpa

taz: Nach über elf Wochen Arbeitskampf an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen steht nun die Einigung auf einen von Verdi geforderten Tarifvertrag Entlastung (TV-E). Was nehmen Sie mit?

Tobias Wendker: Der Streik war kräftezehrend, aber sehr wertvoll. Es bleibt das Gefühl, dass man den strukturellen Problemen im Gesundheitswesen und der Arbeitslast auf der Station nicht nur ausgeliefert ist. Ich habe dadurch Menschen und Bereiche im Krankenhaus kennengelernt, die mir sonst in meiner Ausbildung nicht begegnet wären. Ich bin jetzt besser vernetzt und kenne Kol­le­g*in­nen über das gesamte Uniklinikum hinaus. Erst jetzt kann ich tatsächlich einschätzen, was die Arbeit im Krankenhaus wirklich bedeutet.

Sie waren als Auszubildener Teil der Verdi-Tarifkommission. Warum war Ihnen das wichtig?

Im Bereich Pflege haben wir in der Ausbildung eine sehr hohe Abbruchquote. 25 Prozent meines Kurses haben bereits abgebrochen und das vor der Hälfte der Ausbildung. Auch für mich stellt sich jetzt zum Ende der Ausbildung die Frage, ob ich in einer auf Profitlogik beruhenden Krankenversorgung im Gesundheitssystem arbeiten möchte. Inwieweit kann ich das mittragen, inwieweit bin ich der Arbeitsbelastung gewachsen? Ich habe durch den Streik und die Verhandlungen für mich die Möglichkeit gesehen, selbst was an den Arbeitsbedingungen zu ändern. Sowohl für mich als auch für die Menschen, für die ich im Krankenhaus Verantwortung trage.

23 Jahre alt, seit 2020 Auszubildender im Bereich Pflege am Universitätsklinikum in Münster. Gebürtig aus Greven in Nordrhein-Westfalen.

Wie beeinflusst die Einigung zum Tarifvertrag Ihre Entscheidung?

Das kann ich sehr simpel beantworten. Der TV-E bedeutet, dass ich bleibe. Die Perspektive auf Arbeitsbedingungen, die eine menschenwürdige Patientenversorgung zulassen, führt dazu, dass ich jetzt eine dieser Personen bin, die diesen Beruf nicht verlassen wird.

Viele Menschen haben dem Gesundheitswesen den Rücken gekehrt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hofft darauf, dass durch die neue Pflegepersonal-Regelung (PPR 2.0) mehr Menschen in den Beruf zurückkehren. Haben Sie die Hoffnung, dass das auch der TV-E bewirken kann?

Definitiv. Es gibt ja ein großes Potenzial an Menschen, die diesen Beruf gelernt haben und sich aus nachvollziehbaren Gründen dagegen entschieden haben, darin zu bleiben. Die müssen wir jetzt überzeugen. Ich habe es gerade an meinem Beispiel schon deutlich gemacht: Mich überzeugt dieser Tarifabschluss, in diesem Beruf weiterhin tätig sein zu wollen. Ich glaube, dass es anderen ähnlich geht.

Im Zuge des Streiks waren viele Beschäftigte aber auch wütend, wie mit ihren Forderungen umgegangen wurde. Ein 100-Tage-Ultimatum musste verstreichen, bevor die Klinikleitungen reagiert haben. Außerdem wurden juristische Schritte gegen die Streiks unternommen.

Während der Verhandlungen war auch viel Frust dabei. Seit Ende Mai haben wir bereits verhandelt. Und dass sich dann Mitte Juni, nach bereits zwei Wochen Verhandlungen, die Arbeitgeberseite aus Bonn entschieden hat, die Legitimität unseres Streiks und unserer Forderungen grundsätzlich anzuzweifeln, das hat mich sehr verärgert. Schlussendlich hat uns sowohl das Arbeitsgericht Bonn als auch das Landesarbeitsgericht Köln recht gegeben. Das hat uns noch mal Aufwind gegeben. Mir ist es dabei wichtig zu betonen, dass eben nicht nur die Pflege im Streik war, sondern alle Bereiche am Uniklinikum. Sprich Kitas, Boten- und Transportdienste, Küche, Therapeut*innen, alle.

Der Tarifvertrag Entlastung (TV-E) soll in NRW ab Anfang 2023 gelten. Im ersten Jahr ist vorgesehen, dass Beschäftigte neben dem regulären Urlaub bis zu elf zusätzliche freie Tage erhalten, wenn es zu höheren Belastungen bei der Arbeit kommt. Im zweiten Jahr bis zu 14 Tage und im dritten maximal 18 Tage. Für Auszubildende verbessert sich unter anderem, dass es eine höhere Quote an Lehrkräften in den Pflegeschulen und eine Dienstplansicherheit acht Wochen im Vorhinein gibt. Außerdem sollen alle Auszubildenden der sechs Uniklinken zwei zusätzliche freie Tage bekommen. Auch der Anspruch an die Praxisanleitung für Menschen in der Ausbildung erhöht sich nach dem Eckpunktepapier.

In dem Eckpunktepapier zum TV-E in NRW sind bundesweit zum ersten Mal konkrete Regelungen für die Entlastung von Auszubildenden in den Kliniken festgehalten. Wie wichtig war Ihnen das?

Wir hatten uns drei Kernpunkte auf die Fahne geschrieben: Personalaufbau, Entlastung und eine Verbesserung der Ausbildungsqualität. Ich finde, gerade beim dritten Punkt haben wir ein sehr gutes Ergebnis erzielt. Denn eine Neuschaffung von Stellen, um dem fehlenden Personal entgegenzuwirken, funktioniert nur, wenn durch eine gute und ansprechende Ausbildung Menschen auch nachrücken.

Bei aller Freude über die Einigung: Gibt es auch Kritikpunkte an den verhandelten Eckpunkten?

Es gibt natürlich noch Luft nach oben. Das, was wir jetzt erreicht haben, ist, wie immer in Tarifrunden, ein Kompromiss. Es ist ein erster Schritt in Richtung grundsätzlicher Veränderung des Gesundheitswesens. Die endet nicht mit diesem Eckpunktepapier. Es gibt Bereiche, die sich nicht in angemessenem Umfang in diesem Abschluss wiederfinden. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Kol­le­g*in­nen aus den nicht-refinanzierten Bereichen. Etwa für die Ambulanzen und die Radiologie wollen wir in zukünftigen Entlastungsrunden bessere Ergebnisse erzielen.

Insgesamt bewerte ich den Abschluss allerdings als überwiegend positiv. Der Kampf um ein Gesundheitswesen, in dem Kliniken keine schwarzen Zahlen schreiben müssen, sondern ausschließlich der öffentlichen Daseinsvorsorge dienen, geht aber weiter. In einer Uniklinik, die sich über ihre Jahresbilanz definiert, möchte ich nicht arbeiten. Deswegen werden wir die Strukturen nutzen, die wir in den letzten Monaten aufgebaut haben, um weiter Druck auszuüben.

Wird der Streik in NRW Vorbild sein für weitere Kliniken?

Ja, auch andere Unikliniken, etwa Gießen/Marburg, Frankfurt und Dresden haben sich auf einen ähnlichen Weg begeben. Sie können sich vielleicht von dem, was wir in den letzten Monaten erreicht haben, inspirieren lassen und auch Kraft mitnehmen. So wie wir uns von der Bewegung in Berlin haben inspirieren lassen.

Und jetzt geht es zurück an die Arbeit?

Dienstag waren wir erstmal alle emotional und sehr erschöpft. Ich glaube, nach fast zwölf Wochen belastendem Arbeitskampf mit Freude und Verzweiflung ist da sehr viel von uns abgefallen. Aber ja, jetzt geht es wieder an die Arbeit – und das ist auch gut so! Alle, die sich im Streik engagiert haben, fühlen sich ihren Berufen sehr verpflichtet und üben sie gerne aus. Sonst hätten wir den Stress und den enormen Arbeitsaufwand in den vergangenen Monaten nicht auf uns genommen. Außerdem steht jetzt die Phase an, in der wir die Einhaltung der neuen Regelungen aktiv begleiten müssen.

Sie können also weiterhin die positiven Seiten in Ihrem Beruf sehen?

Auf jeden Fall! Es ist ein sehr menschlicher, sehr schöner Beruf. Ich habe vor der Ausbildung zwei Jahre im Bereich Pflege gearbeitet und da festgestellt, dass das etwas für mich ist. Es bleibt ein Beruf mit vielen erfüllenden Glücksmomenten, aber großen strukturellen Problemen. Wenn man diese Probleme beseitigt, bleibt eine Arbeit, die daraus besteht, für Menschen mit einem Unterstützungsbedarf da zu sein. Das ist etwas sehr Schönes.

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