Kosmopolitisches Berlin: Neukölln ist nicht Deutschland
Ausländer lernen durchaus Deutsch. Aber die Bevölkerung der Hauptstadt ist so international, dass dann doch alle mit ihnen Englisch sprechen.
Ich lebe in zwei Welten. Zumindest, wenn es um meine Freunde geht. Zwischen ihnen steht eine Mauer oder eher eine Hecke. Auf jeden Fall etwas Niedriges, über das man drüberschauen kann, ohne den eigenen Teil des Gartens verlassen zu müssen.
Beide Seiten mögen sich, würden gerne mehr miteinander unternehmen, aber da ist ja die Hecke. Die Hecke, das ist eine Sprachbarriere. Bestimmt ist sie nicht der einzige Grund, warum sich meine Freunde so schwertun, mit allen im gleichen Garten zu spielen, aber sie ist sicher der ausschlaggebende.
Die eine Gruppe besteht zum Teil aus Wahl-, zum Teil aus waschechten Berlinern. Die meisten sprechen sehr gut Englisch, aber eben nicht alle. Denn sie bewegen sich in einem quasi ausschließlich deutschsprachigen Umfeld.
Mit Ausländern unterhält man sich gerne auch auf Englisch, wenn das Deutsche noch nicht ausreicht. Aber wenn die Konversation in der Gruppe über drei Beteiligte hinausgeht, wechselt man ins Deutsche. Ganz logisch, aber anstrengend für den, der die Sprache nicht beherrscht.
Falafelbestellung auf Deutsch
Auf der anderen Heckenseite ist es da bequemer. Denn mein anderer Freundeskreis lebt nicht in Deutschland, sondern in Berlin-Neukölln. Die einzigen Deutschen, die ich hier kenne, sind die Verkäufer*innen bei Netto. Auch wenn ich immer wieder Deutsche treffe, die mir erzählen, dass sie zwei Straßen von mir entfernt wohnen, besteht mein Neukölln aus Ausländern.
Sie kommen aus Polen, Ecuador, Tschechien, Australien, Mexiko, Holland und England. Ganz vorne dabei mein polnischer Freund. Er lebt inzwischen dreieinhalb Jahre in Berlin und hat immer noch Schwierigkeiten, ein Gespräch auf Deutsch zu führen, das über die Falafelbestellung hinausgeht.
Der Rest der Bande ist auch nicht viel besser. Außer der Ecuadorianerin: Als sie nach Deutschland kam, besuchte sie ein Studienkolleg und katapultierte ihre Deutschkenntnisse damit auf Abiturniveau. Da sie aber bisher keinen Studienplatz gefunden hat und mit denselben Menschen ihre Freizeit verbringt wie ich, hat auch sie inzwischen wieder Wortfindungsprobleme.
Das ist nämlich das große Problem: Selbst wenn sich einer die Mühe macht und diese furchtbar komplizierte Sprache lernt, heißt das nicht, dass die Menschen, die er in seinem Leben um sich hat, das auch tun. So bleibt jeder auf einem unterschiedlichen Niveau. Damit alle mitreden können, wird Englisch gesprochen und das mühsam Erlernte gerät in Vergessenheit.
Geflüchtete lernen schneller
Meinem Stiefvater diese Situation zu erklären, ist schwierig. Er hat wenig Verständnis für meine internationalen Freunde. Denn er befand sich auch in dieser Lage: Mit 23 zog er aus Mexiko nach Westberlin. Als Erstes lernte er dort Deutsch. Das war in den frühen 80er Jahren.
Denkbar, dass es damals generell weniger Ausländer gab, die es möglich gemacht hätten, in einem englischsprachigen Paralleluniversum zu leben. Vielleicht gab es insgesamt auch weniger Leute, deren Englischkenntnisse dafür ausgereicht hätten.
Doch wenn ich mich an seine Freunde erinnere, waren unter ihnen auch einige Lateinamerikaner. Sie sprachen viel Spanisch untereinander, aber trotzdem sprachen sie alle fließend Deutsch. Mit Studium und Job wäre das gar nicht anders möglich gewesen.
Auch heute lerne ich natürlich Leute in Berlin kennen, die sich, ohne hier aufgewachsen zu sein, mit mir auf Deutsch unterhalten. Es sind vor allem Menschen, die als Geflüchtete nach Deutschland kamen. Sie erzählen mir meist, dass sie erst ein knappes Jahr in Deutschland leben. Seitdem aber fleißig einen Deutschkurs besuchen, weil sie sich nur mit der Landessprache einen Einstieg in den Arbeitsmarkt erhoffen.
Wenn mein Freund bei solchen Gesprächen dabei ist, schaut er betreten zu Boden. Wenn im Anschluss die Gegenfrage kommt, wie lange er denn schon in Deutschland sei, wird meistens verhalten gelacht.
Als ich ihn kennenlernte, haben mich seine fehlenden Deutschkenntnisse ziemlich gestört. Ich habe nicht verstanden, wie man in ein Land ziehen kann, ohne dessen Sprache zu lernen. Heute habe ich mehr Verständnis dafür. Denn vor Berlin lebte er in London, Paris und Barcelona. Neben sehr gutem Englisch versteht er auch von den anderen beiden Sprachen mehr, als er zugibt. Wirklich gelernt hat er jedoch keine davon.
Homeoffice/creative director/designer-Szene
Aber warum auch, wenn man in ein, zwei Jahren schon woanders lebt? Das ist die Begründung die ich am häufigsten höre. Das Spektrum reicht vom Wochenendtrip über ein Sabbatical bis zum fünfjährigen Aufenthalt. Jeder ist und war schon mal überall, für eine gewisse Zeit. Immer auf der Suche nach der richtigen Work-life-balance, nach der Kreativszene und dem damit einhergehenden weltoffenen Lebensgefühl.
Berlin ist in diesem Sinne der Jackpot: Im Vergleich mit anderen europäischen Metropolen sind Essen und Mieten immer noch spottbillig. Die Homeoffice/creative director/designer/writer-Szene boomt – und funktioniert auf Englisch. Nicht mal in den Cafés muss man, ganz zum Leid von CDU-Politiker Jens Spahn, seinen Soy Latte mehr auf Deutsch bestellen.
Also hin da, und zwar besser gleich als nachher. Bevor die ganze Coolness aufgebraucht ist. Und dann schnell weiter dahin, wo dieser Kreislauf noch am Anfang steht. Ein Paradox: Man kommt wegen der lokalen Kultur, an die sich anzupassen aus Zeitmangel nicht lohnt, und trägt so selbst zu deren Verschwinden bei.
Verständlicherweise werden in ganz Europa Proteste unter dem Slogan „Tourists go home“ laut. Denn dieses Heuschreckenverhalten verwüstet jeden Garten, und zwar auf beiden Heckenseiten. Gleichzeitig ist es aber auch ein Vorgang, an dem man selbst beteiligt ist. Gentrifizierung auf europäischem Niveau sozusagen. Denn auch ich lebe in Neukölln, auch gehöre ich gleichzeitig zu den Heuschrecken, die diesen Sommer in Barcelona und San Sebastián waren.
Auf der internationalen Heckenseite lässt man sich oft auf eine Freundschaft auf Zeit ein. Zwei meiner engsten leben bereits wieder in England, die dritte geht im Oktober. Die Polin liebäugelt momentan wieder mit Tschechien. Da hat sie früher mal gelebt und spricht auch die Sprache. Der Australier will das nächste Jahr vor allem in Indien verbringen und vielleicht auch mal wieder zu Hause vorbeischauen. Danach? Weiß er noch nicht.
Der Grund, warum jemand herkommt, scheint die Motivation, Deutsch zu lernen, stark zu beeinflussen. Wie groß die Hecke wächst, wie sehr man sich auf Kultur und Sprache einlässt, hängt davon ab, was man hier sucht: Mein Stiefvater kam zum Studieren und Arbeiten nach Berlin, also um zu bleiben.
Die meisten Geflüchteten kommen weniger wegen der coolen deutschen oder Berliner Kultur, sondern eher, weil Deutschland das Land ist, in dem sie sich die größten Chancen auf eine menschenwürdige Behandlung und einen Einstig in den Arbeitsmarkt erhoffen.
Kann eine Sprache elitär sein?
Die meist jungen Leute aber, die aus westlichen Ländern hierher kommen, wollen eine Zeit lang den Berliner Lifestyle leben. Und dann weiterziehen. Aber ist das deswegen provinziell und elitär, wie Spahn behauptet?
Die internationalen Kreise bleiben oft unter sich und reden Englisch. Klar. Aber würde diese Szene nicht auch in der Landessprache unter sich bleiben? Wenn Philosophiestudenten Debatten über Kant und Platon führen, grenzen sie dann nicht auch Leute aus, die ihr Vorwissen nicht teilen, auch wenn sie das auf Deutsch tun?
Berlin war schon immer eine Einwandererstadt, die als Mekka der Kreativen galt. Also bestimmte Menschen anzog, die das Berlin, wie wir es heute kennen, bedeutend mitgeprägt haben. An dem Image der Stadt hat sich nicht viel geändert. Was sich allerdings geändert hat, ist, dass diese Lebensart für mehr Menschen zugänglich ist – Easyjet macht’s möglich. Also ist der Lifestyle doch eigentlich weniger elitär geworden, oder?
Außerdem ist Kultur nichts Statisches. Sie verändert sich ständig, ob aus Sehnsucht nach Internationalität oder Faulheit, eine Sprache zu lernen. Das sture Festhalten an den alten Normen wird damit zum wirklich Provinziellen.
Böse Zungen sagen: „Früher kamen die Kreativen nach Berlin, heute kommen die, die es gerne wären.“ Ich würde eher sagen, früher kam man, um zu bleiben, heute, um kurz zu verweilen. Diese Entwicklung hat auch viele gute Seiten.
Die Welt scheint zusammenzuwachsen, man identifiziert sich immer mehr als Europäer, wenn nicht sogar als „Citizen of the world“. Das Verantwortungsgefühl für den gesamten Planeten steigt, in den meisten europäischen Städten habe ich einen Schlafplatz bei Freunden und Diskriminierung scheint zu schwinden – zumindest in meiner Filter Bubble.
Die einen kommen, die anderen bleiben und die Nächsten gehen wieder. Mein Freund macht jetzt erst mal einen Deutschkurs. Na also, schon wieder einer, der bleibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“