„Konzertierte Aktion“ des Kanzlers: Einst ein Flop, jetzt wieder da
Kanzler Scholz kündigt eine „konzertierte Aktion“ an. Die Gewerkschaften sollen Tarifforderungen zurückschrauben. Kann das die Inflation bremsen?
1 Für kommenden Montag ruft Olaf Scholz zur „konzertierten Aktion“ auf. Warum?
Im Bundestag hat Scholz am 1. Juni seine Initiative damit begründet, dass angesichts der dramatisch steigenden Preise „eine gezielte Kraftanstrengung in einer ganz außergewöhnlichen Situation“ notwendig sei. Er fürchtet, dass die „externen Schocks“ – der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch die Folgen der Coronapandemie – zu einer „dauerhaften Inflationsspirale“ führen. Dem will er mit der „konzertierten Aktion“ begegnen.
Für das erste Treffen am Montag hat Scholz jeweils acht Vertreter:innen von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden sowie den Präsidenten der Bundesbank und einen „Wirtschaftsweisen“ eingeladen. Die Bundesminister für Finanzen, Wirtschaft sowie Arbeit und Soziales sollen auch dabei sein.
2 „Konzertierte Aktion“? Klingt komisch. Was ist damit gemeint?
Der Duden übersetzt „Konzertierung“ mit Abstimmung oder Koordinierung. Eine „konzertierte Aktion“ ist also eine abgestimmte Aktion, hier der Regierung mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Die Idee stammt von dem einstigen sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Karl Schiller aus der Zeit der ersten Großen Koalition. Mitte der 1960er Jahre erhoffte er sich davon die Überwindung der ersten wirtschaftlichen Rezession in der Bundesrepublik, als mit dem Ende des „Wirtschaftswunders“ etwa 500.000 Menschen ihre Stelle verloren.
Ziel war es, einen hohen Beschäftigungsstand, Preisstabilität und ein angemessenes Wirtschaftswachstum zu erreichen. Dabei hing Schiller der korporatistischen Vorstellung an, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften gütlich einigen sollten, moderiert vom Staat.
Mittels regelmäßiger Treffen – Schiller sprach von einem „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“ – sollten die beteiligten Akteure zu einer freiwilligen Verhaltensabstimmung bewegt werden, die dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zuträglich sein sollte. Dabei sollte eine „soziale Symmetrie“ gewahrt werden. Das erste Treffen der „Konzertierten Aktion“ fand am 14. Februar 1967 statt.
3 Hat die alte „konzertierte Aktion“ funktioniert?
Nö, hat sie nicht. Was zunächst geklappt hat, war die von der Regierung gewünschte Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften – nicht zuletzt bedingt durch die personelle Verflechtung und politische Nähe von Gewerkschafts- und SPD-Führung. Das Ergebnis waren Tarifabschlüsse mit minimalen nominalen Lohnsteigerungen, die dazu führten, dass die Reallöhne 1967 um 1,6 und 1968 um 1,0 Prozent fielen. Das wurde aber von den Arbeitgebern nicht gedankt.
Das Wachstum kehrte schneller zurück als prognostiziert, die Firmengewinne explodierten. Während sie satte Profite einstrichen, wollten die Unternehmen von „sozialer Symmetrie“ nichts mehr wissen. Schillers Versprechen, dass Gewinne und Löhne im Gleichklang steigen sollten, blieb unerfüllt. Das brachte die Gewerkschaften in die Bredouille, denn die Arbeitnehmer:innen fühlten sich betrogen. Die Folge waren bundesweite „wilde Streiks“ im September 1969.
Daraufhin sahen sich die Gewerkschaften gezwungen, ihre Tarifpolitik radikal zu ändern und wieder kämpferischer zu werden, um nicht ihre Basis zu verlieren. Das allerdings führte zu einer Lohn-Preis-Spirale, da die Firmenchefs die erhöhten Lohnkosten auf die Kund:innen abwälzten. Die Ölkrise 1973 heizte die Inflation zusätzlich an. Die Konsequenz war ein massiver Konjunktureinbruch, verbunden mit drastischen Arbeitsplatzverlusten.
Offiziell beendet wurde die „Konzertierte Aktion“, nachdem die Arbeitgeberverbände 1976 beim Bundesverfassungsgericht gegen das neue Mitbestimmungsgesetz Klage eingereicht hatten. Zunächst sagten die Gewerkschaften deswegen 1977 ihre Teilnahme nur vorläufig ab. 1978 beschloss ein DGB-Kongress den endgültigen Abschied.
4 Warum bedient sich Scholz dieses alten Begriffes?
Weil er heute positiv besetzt ist – aufgrund einer Verklärung, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden hat. Je weniger man sich erinnert, wie es wirklich war, desto strahlender erscheint die Vergangenheit. Gerhard Schröder hatte seinen korporatistischen Versuch 1998 noch anders genannt, nämlich „Bündnis für Arbeit“. Das allerdings war ein kompletter Flop, im März 2003 wurde es beerdigt. Wenige Tage später verkündete Schröder die Agenda 2010.
5 Was will Scholz mit seiner „konzertierten Aktion“ konkret erreichen?
Seinen bisherigen öffentlichen Äußerungen zufolge geht es Scholz darum, die Gewerkschaften dazu zu bewegen, ihre Tarifforderungen zurückzuschrauben und sich mit den Arbeitgebern vor allem auf Einmalzahlungen zu verständigen. Sein Lockmittel ist, diese Einmalzahlungen steuer- und sozialversicherungsfrei zu stellen. Vorbild ist der Coronabonus. „Die gute Idee dahinter ist, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern finanziell Luft zu verschaffen, ohne die Arbeitgeber zu überfordern und Inflationsrisiken anzuheizen“, meint der Kanzler. Doch Scholz wird sich mehr einfallen lassen müssen. Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände haben bereits klargestellt, dass sie sich nicht in ihre Tarifautonomie hereinreden lassen werden.
6 Einmalzahlungen statt höherer Löhne – ist das denn keine gute Idee?
Das kommt darauf an. Einmalzahlungen können in einer ökonomisch unsicheren Situation ein probates Mittel sein, um Beschäftigten schnell eine Entlastung für gestiegene Lebenshaltungskosten zukommen zu lassen, aber nicht dauerhaft die Lohnkosten eines Unternehmens zu erhöhen. Ein Beispiel dafür ist die Brückenzahlung in Höhe von einmalig 1.400 Euro für die 580.000 Beschäftigten in der chemisch-pharmazeutischen Industrie, auf die sich Anfang April die Tarifpartner:innen verständigt haben. Ein großer Vorteil von nicht gestaffelten Einmalzahlungen ist, dass davon Mitarbeitende mit geringen Löhnen am stärksten profitieren.
7 Was haben die Gewerkschaften dann dagegen?
Das mit den Einmalzahlungen klingt einfach, ist es aber nicht. Schon beim Coronabonus war es so, dass für etliche Unternehmen der staatliche Anreiz der Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit nicht ausreichte, um ihn an ihre Beschäftigten auszuzahlen. Viele Beschäftigte gingen leer aus.
Sicherlich könnten sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften tarifvertraglich auf Einmalzahlungen verständigen. Aber: Nach den jüngsten Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind 74 Prozent der Betriebe in Deutschland weder an einen Flächen- noch einen Haustarifvertrag gebunden. Bundesweit arbeiten gerade noch 51 Prozent der Beschäftigten auf einer tarifvertraglichen Grundlage – in den ostdeutschen Ländern sind es nur 43 Prozent.
Hinzukommt, dass es in vielen Branchen in diesem Jahr gar keine Gehaltstarifverhandlungen mehr geben wird. Neben ein paar kleineren stehen nur zwei große Bereiche 2022 vor Tarifauseinandersetzungen: die Metall- und Elektroindustrie (3,8 Millionen Beschäftigte) und die Chemieindustrie (581.000 Beschäftigte). Was ist mit dem Rest, dessen Tarigverhandlungen erst wieder im kommenden pder übernächsten Jahr anstehen?
Und was ist mit den Menschen, die nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind – Erwerbslose oder Soloselbstständige, Studierende oder Rentner:innen? Da greift die Tarifpartnerschaft nicht, hier steht alleine der Staat in der Veranwortung.
8 Das spricht aber nicht generell gegen Einmalzahlungen statt höherer Löhne, oder?
Nein, aber es gibt weitere Haken. Erstens weist Bundesfinanzminister Christian Lindner zu Recht darauf hin, dass es „nicht angezeigt“ ist, auch die Einmalzahlungen von Unternehmen steuer- und abzugsfrei zu stellen, die kräftige Gewinne machen – die könnten sich im Übrigen nicht nur Sozialabgaben auf Einmalzahlungen leisten, sondern auch höhere Tarife.
Zweitens ist eine einmalige Sonderzahlung immer nur ein Strohfeuer. Was ist, wenn die Lebenshaltungskosten weiter hoch bleiben? Die Einmalzahlung ist dann aufgebraucht. Das lässt sich nur durch generelle Lohnerhöhungen abfedern.
Drittens hat bereits die Coronapandemie hat bei den Beschäftigten zu Reallohnverlusten geführt. Laut den Berechnungen des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) stiegen die Tarifverdienste im vergangenen Jahr im Schnitt lediglich um 1,7 Prozent, während sich die Verbraucherpreise aber um 3,1 Prozent erhöhten. Das ergibt für 2021 einen Reallohnverlust von 1,4 Prozent.
Bei einer Inflation von knapp 8 Prozent sind die Verbraucherpreise für Energie im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat um mehr als 38 Prozent gestiegen, für Nahrungsmittel um mehr als 11 Prozent. Um Menschen nicht in Existenznot zu bringen, sind sowohl ordentliche Lohnabschlüsse als auch weitere staatliche Entlastungspakete erforderlich.
9 Steigen die Preise nicht weiter, wenn die Gewerkschaften auf höheren Löhnen beharren?
Auch hier gilt: Das kommt darauf an. Auslöser der aktuellen Inflation sind ein eingeschränktes Rohstoff- und Warenangebot als Auswirkung der Coronapandemie und des Ukrainekriegs, gepaart mit Spekulationen. Wenn darauf mit Lohnsteigerungen reagiert wird, besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich höhere Tarife und Preissteigerungen gegenseitig hochschaukeln. Das passiert aber nur, wenn die Unternehmen die gestiegenen Lohnkosten an die Kund:innen weitergeben.
Das ist keine Zwangsläufigkeit, zumal zahlreiche Unternehmen auch und gerade in der Krise blendende Geschäfte machen. So verbuchte die deutsche Autoindustrie 2021 trotz Lieferengpässen und Kurzarbeit Rekordgewinne. Die Alternative zu Lohnzurückhaltung könnte daher auch Gewinnzurückhaltung sein.
Der englische Wirtschaftsjournalist Martin Sandbu hat das in der Financial Times ganz gut erklärt: „Theoretisch kann man eine Lohn-Preis-Spirale verhindern, indem man eine der beiden Verbindungen unterbricht: den Versuch der Arbeitnehmer, ihren Reallohn zu schützen (oder zu erhöhen), oder den Versuch der Unternehmen, ihre Gewinnspanne oder ihre reale Rendite zu schützen (oder zu erhöhen).“
Statt die Gewerkschaften zu Lohnzurückhaltung aufzufordern, wäre es also auch möglich, von den Unternehmen zu verlangen, nicht an ihren Gewinnmargen festzuhalten. Davon ist allerdings bislang von Olaf Scholz nichts zu hören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr