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Kontrollen von PflegeeinrichtungenZiemlich marodes System

Der Medizinische Dienst hat für Hamburgs stationären Pflegeeinrichtungen eine lange Mängelliste erstellt. Und jetzt? Passiert zu wenig, sagt die Linke.

Läuft schlecht in Hamburg: Bei 106 Regelprüfungen sind Mängel protokolliert worden Foto: Ute Grabowsky/imago

Osnabrück taz | Wer die Lage in der Pflegebranche beschreiben will, verwendet oft Worte wie: Mangel, Misere, Missstand, Martyrium. Auch die Fraktion Die Linke der Hamburgischen Bürgerschaft tut das. Sie konstatiert für Hamburgs stationäre Pflegeeinrichtungen „gravierende Missstände“.

Zuständig für die Kontrolle der Einrichtungen ist die bezirkliche Wohn-Pflege-Aufsicht (WPA), gemäß des Hamburgischen Wohn- und Betreuungsqualitätsgesetzes, und theoretisch ist sie ein scharfes Schwert: Sie kann Maßnahmen anordnen, Beschäftigungsverbote aussprechen, Betriebsschließungen veranlassen.

Jährlich unterzieht der Medizinische Dienst (MD) der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung 90 Prozent der Einrichtungen in Hamburg einer Regelprüfung, den Rest übernimmt der Prüfdienst der privaten Krankenversicherungen – nominell. Zusätzlich finden, etwa nach Beschwerden durch Angehörige, Anlassprüfungen statt. Decken Kontrollen Mängel auf, muss die WPA dafür sorgen, dass sie beseitigt werden.

2022 seien „zahlreiche Mängel“ festgestellt worden, sagt die Linksfraktion. Der bezirklichen Wohn-Pflege-Aufsicht sei es jedoch „in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht gelungen zu prüfen, ob diese Mängel auch beseitigt wurden“. „Viel zu selten“, beklagt Deniz Celik, gesundheitspolitischer Sprecher der Fraktion der Linken, werde überprüft, ob sich die Verhältnisse in den Einrichtungen tatsächlich verbessert haben. Die bezirkliche Wohn-Pflege-Aufsicht sei „schlecht aufgestellt“. Das sei „verhängnisvoll“. Der Senat müsse „dringend handeln und das Personal deutlich aufstocken“.

Erschreckende Zustände

Zwei Senatsanfragen haben die Linken auf den Weg gebracht, um die Situation zu erhellen: „Wie hat sich die Situation der WPA und des MD entwickelt?“ von Ende Mai und, weil in der Antwort des Senats Fragen „zum Teil ohne Angabe von Gründen“ nicht oder nicht vollständig beantwortet worden seien, „Nachfragen zur Situation der Wohn-Pflege-Aufsicht und des Medizinischen Dienste“ von Ende Juni.

Die Mängel, die der Senat auf diese Nachfragen jetzt auflistet, lesen sich erschreckend. Sie reichen vom Unterschreiten der Fachkraftquote bis zum Freiheitsentzug ohne Genehmigung.

Mängel hinsichtlich der Ernährung und der Flüssigkeitsversorgung sind entdeckt worden, hinsichtlich der Körperpflege, des Umgangs mit Arzneimitteln, der Schmerzerfassung, des Hygienemanagements, der Wundbehandlung, der Sauerstoffversorgung, der sozialen Betreuung, des Infektionsschutzes, der Mitsprache. Es geht um Neueinzüge trotz Aufnahmestopp, um mangelnde Fehlerkultur, um mangelnde Fort- und Weiterbildung, um Mängel in der Arztkommunikation.

In der Rubrik „Mängel fristgerecht beseitigt?“ steht sehr oft ein „noch offen“. Bei „Gleicher Mangel wurde auch bei weiteren Prüfungen festgestellt“ steht zuweilen ein „Ja“. „Das ist schon krass!“, sagt Miriam Crass, Referentin für Gesundheitspolitik der Linksfraktion, der taz. „Teils sind das ja strukturelle, systemische Probleme.“

Bei 106 Regelprüfungen seien Mängel protokolliert worden, von Mitte 2022 bis Mitte 2023, rechnet die Linksfraktion vor. Das entspreche mehr als 70 Prozent der stationären Pflegeeinrichtungen. Insgesamt sei es zu 191 Überprüfungen gekommen, anlassbezogene inklusive; bei 130 sei die Mängelbehebung noch offen beziehungsweise nicht überprüft worden.

Die Hamburger Sozialbehörde räumt ein, dass es besser laufen könnte. „Geplant ist die schrittweise Einführung eines digitalen Fachverfahrens, das perspektivisch eine Arbeitserleichterung darstellen wird“, sagt Anja Segert, ihre Sprecherin, der taz zur Situation in der WPA. „Die Bezirksämter und die zuständigen Behörden sind im ständigen Kontakt darüber, wie die Dienstleistungen der Stadt verbessert werden können.“ Auch die Personalausstattung werde dabei thematisiert.

Allheilmittel Digitalisierung

„Die Prozesse der WPA“, verspricht die Antwort des Senats auf die Linken-Anfrage vom Juni, sollen durch die Digitalisierung „perspektivisch effizienter und ressourcenschonender“ werden.

Allerdings: Der „Prozess der Bewertung der Ergebnisse der Prüfberichte und das einvernehmliche Festlegen von Maßnahmen mit den Einrichtungen“ werde „in jedem Fall durchgeführt“, versichert Segert. „Hierbei handelt es sich neben kurzfristigen Maßnahmen für Einzelfälle oft um strukturelle Erfordernisse, die in längerfristigen Prozessen in den Einrichtungen umgesetzt werden müssen.“

Daher könne „nicht immer von einer unmittelbaren Abarbeitung von Prüfergebnissen ausgegangen werden“, erklärt sie die 130 offenen Mängellagen, es müsse „in mehrfachen Nachprüfungen die abschließende Bearbeitung der Auswertung einer Regelprüfung durch die Wohn-Pflege-Aufsichten nachgehalten werden“. Ein Fall sei erst abgeschlossen, „wenn alle festgestellten Mängel auch nachvollziehbar abgestellt sind“. Das heiße aber nicht, dass eine Überprüfung der Maßnahmen noch nicht begonnen habe.

Miriam Crass ist skeptisch, ob sich bei der WPA rasch etwas bessert. „Dafür reicht es ja nicht, ein bisschen an der Digitalisierung zu modifizieren“, sagt sie. „Das klingt alles sehr schwach, sehr vage, ideenlos. Dadurch werden die Personalvakanzen ja nicht behoben. Und in den Pflegeeinrichtungen, selbst in Personalnot, selbst ändert sich dadurch ja auch nichts.“ Das System sei „ziemlich marode“.

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4 Kommentare

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  • Meine eigenen Erfahrungen (Niedersachsen) mit 3 Pflegeeinrichtungen und 4 Betreibern von 2014 bis ins letzte Jahr: Es geht kontinuierlich bergab. Die Heimaufsicht ist ein zahnloser Tiger, - personell unterbesetzt, mit "gebundenen Händen." Bewohner wie Pflegekräfte bleiben wirtschaftlichen Zwängen schutzlos ausgeliefert. Ein Ende ist nicht in Sicht. Oder doch, mit ganz furchtbaren Nachrichten und Bildern. Lange kann es nicht mehr dauern. Oder ... man lernt, noch effizienter wegzusehen. Vielleicht mit Hilfe umfassender Digitalisierung?

  • Hinter den nackten Zahlen verbergen sich sich vermutlich skandalöse Zustände, die bei genauer Betrachtung den Lesern der taz den Atem verschlagen würden. Es braucht einen Journalisten wie Günther Wallraff, um diese Zustände in Hamburger Pflegeeinrichtungen kenntlich zu machen. Mit einer Statistik ist es nicht getan.



    Die Frage ist, ob die zuständige Sozialsenatorin Schlotzhauer genug unternimmt, um diese Missstände zu beseitigen. Und was unternahm ihre Vorgängerin?



    Diese offenen Fragen rufen nach einem Untersuchungsausschuss in der Hamburger Bürgerschaft, den CDU und Linke anstrengen sollten.



    Denn diese Missstände gibt es vermutlich schon seit Jahren. Vermutlich würden sich viele Bürger melden, um diese Missstände zu beschreiben.

    Die verantwortlichen Aufsichtsbehörden scheinen disfunkional zu sein, verstecken sich hinter bürokratischen Floskeln, handeln aus Personalnot nicht konsequent.

    Auf Personalnot in Heimen wurde die Sozialsenatorin im März von privaten Pflegeeinrichtungen hingewiesen. Personalnot auf beiden Seiten, in Heimen und bei der Heimaufsicht, wer übernimmt die Verantwortung für diesen strukturellen Missstand, der zum Himmel schreit?

    www.ndr.de/nachric...flegeheime152.html

    Dass die Missstände in den betroffenen Heime nicht öffentlich gemacht werden können, ist ein weiterer Skandal.

    Obwohl die Wählerschaft von SPD und CDU in hohem Maße von Wählern aus der Seniorenschaft abhängt, tun die Parteien nicht genug, um die strukturellen Missstände in Altenpflegeeinrichtungen zu beenden.

    Es wäre schön, wenn die taz darüber informiert, ob die Heimaufsicht aufgrund des Freiheitsentzuges ohne Genehmigung in einer Pflegeeinrichtung Anzeige bei der Hamburger Staatsanwaltschaft gestellt hat.

  • ...sorry Tipfehler - in Nordrhein-Westfalen wurde diese Praxis weitergeführt, ist ja Ländersache.

  • Das System ist eine Sauerei - während der Pandemie wurde das bisschen Pflegegeld für die Stufe 1 den zu pflegenden direkt überwiesen. Das sind ja weiter selbständig denkende Erwachsene. Als Tochter helfe ich meinem Vater da, wo er es wünscht.



    Nach der Pandemie hat Niedersachsen diese Praxis bis Jahresende beibehalten. Hier in Niedersachsen wurde gesetzlich wieder eingeführt: Das Pflegegeld darf nur in gesetzlich geprüfte Pflegeeinrichtungen gezahlt werden - ob Pflegepersonal vorhanden oder nicht. Es kursiert schon, das jetzt überbezahlte Fensterputzer das Geld einsacken.



    Soviel dazu - man kann nur noch den Kopf schütteln.