Konflikt zwischen Ukraine und Russland: Die gespaltene Stadt
Der Konflikt zwischen Kiew und Moskau droht zu eskalieren. Die ukrainische Hafenstadt Mariupol lebt schon seit Jahren mit der Bedrohung.
Früher, so hört man, habe es Warteschlangen vor den Kais gegeben. Irgendwo fährt ein orangefarbener Gabelstapler. Am Rand des Hafens hat sich eine Gruppe Bewaffneter niedergelassen. Rechtsextreme Asow-Kämpfer, eines der vielen nationalistischen Freiwilligenbataillone, die die Ukraine gegen die Separatisten schützen, die nur rund 25 Kilometer vor der Stadt stehen und die Grenzen der „Volksrepublik Donezk“ verteidigen.
Dabei ist der „Feind“ auch in der eigenen Stadt. Mariupol ist eine gespaltene Stadt – und das nicht erst seit der Blockade des Asowschen Meeres, über das Mariupol immer weniger Stahl in alle Welt verschifft. Nicht erst, seitdem der ukrainische Präsident Poroschenko das Kriegsrecht für diese und andere Regionen der Ukraine ausgerufen und vor einem Krieg mit Russland gewarnt hat.
Mariupol ist die östlichste Großstadt der Ukraine. Die Hafenstadt zählt knapp 500.000 Einwohner, und einige von ihnen wären gerne wie die „Volksrepublik Donezk“ losgelöst von der Ukraine. 2014 wollte ein Teil der Einwohner ein Referendum über die Zugehörigkeit der Stadt abhalten, über Monate lieferten sich proukrainische und separatistische Anhänger Kämpfe. 2015 kamen bei einem Angriff der Separatisten auf die Stadt 30 Zivilisten ums Leben. Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland bestimmt auch heute noch den Alltag, auch wenn die Priasovskij Rabochij, die größte Zeitung Mariupols, lange Zeit kaum mehr darüber berichtet hat.
Kiew für Kriegsrecht, Mariupol dagegen
Bauarbeiter aus Donezk, die früher eine Stunde nach Mariupol brauchten, hängen nun bei jedem Grenzübergang acht Stunden fest. Verwandtschaftsbesuche in der „Volksrepublik Donezk“ sind zu einem Politikum geworden. Und auch die Lokalpolitik hat sie entschieden: Seit 2015 regiert hier der „Oppositionsblock“, eine Partei, die deutlich freundlichere Töne gegenüber Russland anschlägt als die Regierung in Kiew und den Dialog mit den „Volksrepubliken“ will.
Und offenbar will das auch die Mehrheit der russischsprachigen Bewohner. Der Oppositionsblock holte bei den Wahlen mit 64 Prozent die deutliche Mehrheit. Als das ukrainische nationale Parlament am Montag in Kiew das Kriegsrecht beschlossen hat, stimmte der Oppositionsblock dagegen.
Es gibt aber auch andere – patriotischere – Stimmen in der Stadt. Olena Solotarjewa wartet in der Nähe des ehemaligen griechischen Theaters im Zentrum der Stadt. Das ganz in Weiß gehaltene Gebäude mit seinen zwei wuchtigen Säulen am Eingang und den verspielten Skulpturen ist die Visitenkarte der Stadt. Es erinnert daran, dass es die Griechen waren, die vor etwas mehr als 200 Jahren Mariupol gründeten, und daran, dass sich auch heute noch 13 Prozent der Bevölkerung als griechischstämmig verstehen. Vom Humanismus ist dieser Tage in der Stadt hingegen wenig zu spüren.
„Ich freue mich darüber, dass sie das Kriegsrecht ausgerufen haben“, sagt Olena Solotarjewa, die eigentlich Dozentin für technisches Englisch ist. Zu Kriegsbeginn 2014 wurde sie zur Aktivistin. Aus Überzeugung. Aus Patriotismus. Sie unterstützte an der Front stehende ukrainischen Soldaten und Freiwillige. „Ich kann mich noch gut an 2014 erinnern“, schildert Solotarjewa. „Da war niemand auf den Angriff vorbereitet. Und was haben wir bekommen?“ Heute sei die Ukraine, die ukrainische Armee besser vorbereitet. Heute wüssten sie, dass sie sich auf ihre Armee verlassen könnten.
Feinde: Russland und ukrainische Oligarchen
Die neue Situation beunruhige sie zwar, aber sie habe nicht mehr so viel Angst vor dem Krieg wie damals. Wie viele andere hier hat sich Solotarjewa an die ständige Kriegsgefahr gewöhnt. Immer wieder höre sie nachts die Geschosse. Mittlerweile hat sie schon gelernt, allein vom Geräusch zu erkennen, welche Seite geschossen habe. „Wenn es ‚tuk-tuk‘ macht, sind es unsere. Wenn es ‚tuuuuk‘ macht, dann sind es die anderen“, sagt sie.
Seit ein paar Jahren ist Solotarjewa auch in einer neuen Partei aktiv, der „Macht der Menschen“. Und da stehe man als kleine Partei mit acht Prozent der Wählerstimmen dem Oppositionsblock gegenüber. In Mariupol gilt der Oppositionsblock, der von der ukrainischen Regierung gerne als „prorussisch“ bezeichnet wird, als sehr industrienah. Oberbürgermeister Wadim Bojtschenko war vor seiner Wahl Personalchef in einem der beiden Stahlwerke der Firma Metinvest, die dem ostukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow gehören und zu den Hauptarbeitgebern der Stadt gehören.
35.000 Menschen arbeiten dort, 23 Prozent des städtischen Haushalts, so eine Sprecherin der Stadt, stammen von diesen beiden Fabriken. In der neuen Partei „Kraft der Menschen“ von Aktivistin Olena Solotarjewa sagt man halb scherzhaft, dass der Oppositionsblock in Mariupol eigentlich Partei von Metinvest heißen müsste.
Die Ukraine habe mit Russland nicht nur einen äußeren Feind. Man habe lange gegen Russland gekämpft und sei erst spät darauf gekommen, dass auch in der Stadt einiges im Argen liege. Seitdem der Oligarch Achmetow, der auch der reichste Mann der Ukraine ist, in den 90er Jahren die Stadt mit seinen Fabriken Azovstal und Ilyich in Beschlag genommen habe, würde die Stadt fast nur noch für diesen Oligarchen arbeiten. Und das heißt natürlich, dass die Arbeiter manipulierbarer geworden sind. Und die stimmten dann bei den Wahlen so ab, wie der Konzern Metinvest von Achmetow das wolle.
Halbe Million Einwohner, 13 Züge pro Tag
Früher, so die Aktivistin, in den 90er Jahren, habe es noch kleinere Unternehmen gegeben. „Damals hatten wir zahlreiche kleinere Unternehmen, Leichtindustrie, eine Likörfabrik, Kühlschrankproduktion, Brotfabriken.“ Diese Unternehmen habe man ganz gezielt in den Bankrott getrieben. „Dadurch hat die Konkurrenz dieser Firmen in Donezk einen neuen Absatzmarkt in Mariupol bekommen.“ So etwas sei Raubtierkapitalismus, wie man es vom Anfang des 20. Jahrhunderts kenne.
Auch logistisch sei Mariupol in einer Sackgasse. Zu Zeiten der Sowjetunion habe man einen lebendigen Zugverkehr in viele Städte, sogar einen Flughafen gehabt. Doch wegen des 2012 eröffneten Flughafens von Donezk sei der Flughafen von Mariupol unrentabel geworden. Und schon lange vor dem Krieg habe man der Stadt nur noch zwei Fernverbindungen mit der Bahn gelassen, nach Kiew und nach Moskau.
Heute treffen täglich nur mehr 13 Züge am Hauptbahnhof von Mariupol ein, ein Gebäude, das an einen Provinzbahnhof erinnert. Nur die schwerbewaffneten Polizisten erinnern daran, dass Mariupol im Zentrum eines internationalen Konflikts steht, der nun weiter zu eskalieren droht.
Einen, den man hätte vermeiden können, findet Viktor Grammatikov. „Ich bin sehr beunruhigt über diese Situation. Wir hatten doch mal freundschaftliche, brüderliche Beziehungen zu der anderen Seite. Und nun machen sie so was.“ Mit sie meint Grammatikov die eigene Regierung in Kiew. „Im September haben sie doch schon Schiffe ins Asowsche Meer gefahren“, sagt Grammatikov „Warum jetzt wieder?“
Wer provoziert: Putin oder Poroschenko?
Grammatikov ist Chefredakteur des von der Stadt Mariupol finanzierten Radios „Priasowja“. Und so wie er denkt, dürfte wohl ein Großteil derer denken, die in Mariupol für den Oppositionsblock gestimmt haben. Für ihn scheint nicht Russland, sondern die Ukraine der Provokateur. Wenn er über die öffentlichen Äußerungen Poroschenkos spricht, sagt er Sätze wie: „Das hätte er besser nicht gemacht“ oder „Dann hätte man eine Provokation vermieden.“
Dass Kiew das Kriegsrecht verhängt hat, empfindet er als Spiel mit dem Feuer. Russland habe sich in diesen Konflikt eingemischt, angeblich, um die russische Bevölkerung zu schützen. „Jetzt werden sie vielleicht die russische Bevölkerung noch radikaler schützen wollen.“ Und dann könnte es doch Krieg geben.
Und dann käme die Arbeit im Hafen von Mariupol wohl gänzlich zum Erliegen. Vor Beginn der Kämpfe im Jahr 2014 wurden hier 14 Millionen Tonnen jedes Jahr abgewickelt, heute sind es nicht einmal mehr 7 Millionen Tonnen. Und seitdem Russland im April begonnen hat, Schiffe zu kontrollieren, die die Häfen von Mariupol und Berdjansk anlaufen, ist es noch mal komplizierter geworden.
„Schiffe, die nach Mariupol wollen, müssen jetzt oft bis zu einer Woche und länger warten“, seufzt Alexander Oleynik. Für Schiffseigner entstehen so Kosten bis zu 15.000 US-Dollar – pro Tag. Oleynik ist der Direktor des Hafens Mariupol. Für ihn ist klar, dass Russland mit den Kontrollen die ukrainischen Häfen diskreditieren wolle. Und diese Kontrollen seien auch eine finanzielle Einbuße für den ukrainischen Staat, der den Hafen finanziere. Den Niedergang seines Hafens beobachtet Oleynik aber schon länger.
Meereszufahrt blockiert
Früher einmal, so der Direktor, sei der Hafen von Mariupol sehr beliebt gewesen. Wegen der Nähe zum Industrie- und Bergbaugebiet des Donbass haben man kostengünstig und schnell Güter der Schwermetallindustrie und Kohle verschiffen können. Mit dem Beginn der Kampfhandlungen 2014 blieben die ersten Schiffe weg. Doch das eigentliche Problem, so Oleynik, habe man im August 2017 mit dem Bau der 35 Meter hohen Brücke von der Krim nach Russland bekommen. Jetzt können nur noch Schiffe, die nicht höher als 33 Meter aus dem Wasser ragen, in den Hafen von Mariupol kommen.
Dies bedeute, dass Mariupol nun keine Schiffe mehr mit einer Ladung von 30.000 Tonnen abfertigen könne. Schiffe mit richtig schwerer Ladung, insbesondere mit Gusseisen, das man früher in die USA exportiert habe, können nun Mariupol nicht mehr anfahren bzw. verlassen. Allein 500.000 Tonnen Metallerzeugnisse und vier Millionen Tonnen Kohle pro Jahr können nun nicht mehr über Mariupol abgewickelt werden.
Und doch ist Direktor Oleynik Optimist. Man plane derzeit sogar den Ausbau des Hafens. So wolle man auch landwirtschaftliche Erzeugnisse ab 2019 mit einem neuen Anlegekai verschiffen. Landwirtschaftliche Güter können in niedrigen Schiffen transportiert werden. Schließlich sei die Ukraine weltweit an dritter Stelle im Getreideexport. Derzeit sei man in Verhandlungen mit einer chinesischen Agrarfirma.
Diese plane in Mariupol den Bau von Lagern für Sonnenblumenkerne und Sonnenblumenöl sowie eine Leitung, durch die man das Sonnenblumenöl direkt nach der Verarbeitung in die Tanker pumpen kann. Für die Einweihung der neuen Anlegestelle 2019 habe sich bereits die US-Botschafterin angekündigt.
Die Beziehungen zu Russland wird das sicher auch nicht verbessern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“