Kommentar Weltkriegsgedenken: Internationalismus ist nötiger denn je
Das Ende des Ersten Weltkiegs war der Beginn einer regelbasierten Weltordnung. Das Erinnern daran ist auch noch heute wichtig.
D as Gedenken an das Ende des Ersten Weltkrieges bleibt in Europa geteilt. In Frankreich und Großbritannien prägt das Massenschlachten von 1914 bis 1918, das ein Viertel der Menschheit direkt betraf und fast 20 Millionen militärische und zivile Opfer forderte, die nationale Gedenkkultur. Im Geschichtsbewusstsein der Deutschen ist es hingegen zu einer Randnotiz verkommen.
Dieses Vergessen verleitet in Deutschland zu einem Vergessen der Grundlagen der regelbasierten internationalen Weltordnung, deren Verteidigung die deutsche Außenpolitik sich eigentlich auf die Fahnen schreibt. Der Erste Weltkrieg war der erste der Geschichte, dessen Beendigung nicht nur Sieg und Niederlage festschrieb, sondern auch eine Weltordnung zu gründen versuchte, die solche Kriege unmöglich machen sollte.
Nicht nur war der militärische Eintritt der USA in den Krieg ab 1917 an der „Westfront“ kriegsentscheidend – der politische Vorstoß der USA, Frieden mit Deutschland von politischen Bedingungen abhängig zu machen, läutete ein neues Zeitalter ein. Nie zuvor waren Ideen wie die Selbstbestimmung der Völker, nationale Abrüstung und eine auf Regeln statt auf Geheimdiplomatie fußende internationale Sicherheitsarchitektur zu Fundamenten eines Friedens erklärt worden.
Die Sprengkraft von Wilsons Idee ist ungebrochen
Die Idee des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson, an die Stelle des ewigen Machtwettbewerbs der Nationen eine globale Rechtsordnung zu setzen, ist das eigentliche revolutionäre Erbe des Jahres 1918. Sie wurde danach von reaktionären Kräften bekämpft und schließlich zu Fall gebracht. Hitler und Stalin stehen an der Spitze der Staatsführer, die weiterhin in Kategorien von territorialer Ausdehnung, von unbeschränkter nationaler Souveränität, von Einflusssphären und von Lebensräumen dachten und handelten.
Doch die Sprengkraft von Wilsons Idee ist ungebrochen. Und es kennzeichnet die tiefe intellektuelle und politische Konfusion der Gegenwart, dass die Grundsätze von 1918 heute sogar von manchen Kräften, die sich als progressiv definieren, abgelehnt werden – weil sie nicht nur eine Weltordnung begründen, sondern auch ein internationalistisches Selbstverständnis der USA als Weltpolizist. Humanitäre Interventionen oder Schutzverantwortung sind in der deutschen außenpolitischen Debatte fast zu Unworten verkommen, weil sich niemand mehr erinnern mag.
Diejenigen, die die alte Welt des Dauerkonflikts schätzen, wähnen sich wieder einmal auf der Siegerseite der Geschichte: Putin und Trump, Xi und Erdoğan, Assad und Kim, Bolsonaro und Duterte, Maduro und Bashir, Orbán und Salvini, um nur einige zu nennen. Ihre Geisteshaltung führte vor 100 Jahren in die Katastrophe. Damals war Internationalismus nötig, um die Welt wieder aus dem Abgrund herauszuführen. Heute auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe