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Kommentar Protest in der TürkeiDie bessere Türkei

Kommentar von Felix Dachsel

Das Vorgehen der türkischen Polizei ist brutal. Es erinnert an Krieg. Erdogan muss sich bewusst sein, dass dieses Verhalten Folgen hat.

Erschöpft am Tag nach der Eskalation: Demonstranten am Rande des Gezi-Parks Bild: dpa

D as, was die türkische Polizei vergangene Nacht auf dem Istanbuler Taksimplatz veranstaltet hat, sah aus wie Krieg gegen die eigene Bevölkerung – und fühlte sich so an. Die Polizei nebelte ein provisorisches Lazarett mit Pfeffergas ein. Sie schoss auf einen Krankenwagen. Sie warf Steine auf Demonstranten. Die Polizei lief Amok, wie Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zuvor schon rhetorisch Amok gelaufen war. Aus der Gewalt der Worte wurde echte Gewalt: Nun sind Hunderte verletzt, das Volk ist gespalten.

Der brutale Einsatz der türkischen Polizei verdient alle internationale Kritik, die möglich ist. Ministerpräsident Erdogan muss wissen, dass die Welt hinschaut, wenn er friedliche DemonstrantInnen nieder prügeln lässt, dass sie zuhört, wenn er gegen Teile seiner Bevölkerung hetzt. Und: Dass dieses Verhalten Folgen hat für ihn. Er darf das nicht wieder tun. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite steht ein Land, das sich durch Mut, Hilfsbereitschaft und Humor auszeichnet. Luxushotels öffnen ihre Foyers für Verletzte, freiwillige Ärzte versorgen Demonstranten, Anwohner nehmen flüchtende Aktivisten auf. Wäre das in Deutschland möglich? Und egal, wie viel Pfeffergas die Polizei zwischen die Zelte feuert: Im Gezipark wird weiter getrommelt und getanzt.

taz
Felix Dachsel

ist Autor der taz.

Würdelos ist es, wenn sich Politiker aus der Union, wie der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Philipp Mißfelder, keinen Tag gedulden können, um politisches Kapital aus den Bildern vom Taksimplatz zu schlagen. Noch während in Istanbul Verletzte mit Blaulicht in Krankenhäuser gebracht werden, verkündete Mißfelder, der EU-Beitritt der Türkei sei nun in weite Ferne gerückt.

Erdogan kann schreien, so laut er will

Deutlicher kann man nicht signalisieren, wie egal einem all jene Menschen sind, die friedlich und mit vollem Einsatz gegen die Willkür ihres Regierungschef aufbegehren: junge Studentinnen, Arbeiter, Banker, Fußballfans. Dieses Land hat eine Zivilgesellschaft, die sich wehrt.

Und der Gezipark ist nicht nur ein Park: Er ist die bessere Türkei. Gezi zeigt, wie sich Menschen verhalten, wenn sie Verantwortung für etwas übernehmen, das ihnen wichtig ist. Gezi zeigt auch, dass Kurden neben türkischen Nationalisten zelten können, ohne dass sie sich die Köpfe einschlagen. Diese Vision ist nun in der Welt: Sie kann nicht mehr von Räumfahrzeugen beiseite geschafft, von Drohungen vertrieben, von Tränengas vernebelt werden. Da kann Erdogan schreien, so laut er will.

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18 Kommentare

 / 
  • A
    aujau

    Meine Zustimmung an T. V.

  • H
    Hafize

    "Und der Gezipark ist nicht nur ein Park: Er ist die bessere Türkei."

     

    Da würde ich zustimmen. Klar, CDU, CSU und FDP wollen im Wahlkampf die 'rechten' Wähler damit ansprechen. Aber die Türkei hat viel zu wenig Fortschritte für die EU gemacht, alleine die dauerhafte und altbackende Perspektive auf Kurden oder andere Minderheiten ist ein No-Go.

     

    Absurd ist, dass sich Erdogan eine ganze Weile als toleranter Reformer in der EU verkaufen konnte. Nach den Taksim-Vorfällen wissen wir doch alle, dass er kein Demokrat ist, dass seine politischen Vorstellungen ähnlich autoritär sind, wie die von Kenan Everen oder der MHP.

    Hab ich die Mehrheit bestimme ich auf für den Rest alles - das ist sein Motto.

     

    Das hat mit einer echten Demokratie nix zu tun. Erdogan gehört abgewählt und die Türkei gehört unter die kalte EU-Dusche. Dass die Türkei EU-fähig werden könnte, sieht man bei den jungen Menschen vom Gezi Park - die haben friedlich demonstriert und protestiert. Die vielen linken Gruppen, die Erdogan so gestört haben, die sind doch nur massenhaft aufgetreten, als die Polizei dort repressiv und hemmungslos wurde, praktisch gleich am Anfang. Aber da liefen auch Kopftuchelsen rum, die eben einen Park am Taksim haben wollten.

  • P
    ProDiskussion

    Die aktuellen Ereignisse sollten doch jedem in Deutschland und in Europa klar machen, dass DIESE Türkei nichts, aber auch gar nichts in der EU zu suchen hat!

  • W
    Walter

    Wie der Autor zu seiner Meinung kommt, die türkische Bevölkerung stehe hinter den Protesten, bleibt sein Geheimnis. Niemand würde wegen solcher Ereignisse bei uns behaupten, die Mehrheit der Deutschen stünde dahinter. Die westliche Presse hat nie behauptet, die AKP sei durch Wahlmanipulationen zur Regierungsverantwortung gekommen. Sie war immer eine islamistische Partei, ihre Wähler wissen das und billigen es. Und nicht die AKP zu wählen heisst keineswegs, Anhänger eines säkularen Systems zu sein. Bei genauer Betrachtung war schon das kemalistische System nicht säkular, sondern einzig dem Sunnitentum verpflichtet. Deshalb wurde schon 1924 das Religionsministerium gegründet. Aber die Türkei ist nur offiziell ein sunnitisches Land. Ein Fünftel bis ein Drittel der Bevölkerung sind Aleviten, Diese stehen den Schiiten nahe, erkennen aber nicht die Autorität des Korans an, sind also ''Abtrünnige'' vom Islam. Desweiteren ein hoher Anteil an Kurden, die aus nationalen Gründen nicht in die Türkei integriert sind. Diese Bevölkerungsteile sind oppositionell und in den Großstädten stark vertreten. Erst vor kurzem wurde eine Brücke in Istanbul nach Sultan Selim I. Yavuz (1512 -1520), dem ''Schlächter der Rotmützen'' (Aleviten), benannt.

  • P
    pars

    @ tommy - was heisst für sie mehrheit? in der letzten wahl haben von allen die gewaehlt haben ca 50% gegen die AKP gestimmt. einer grosser teil derer die für die AKP gestimmt haben haben diese auch nur gewaehlt da dies für sie das kleinere übel zu sein schien und die anderen parteien nicht Ihre (vorallem wirtschaftlichen) Interessen vertreten. das problem liegt im grunde daran dass das aktuelle wahlrecht eine mindesthürde von 10% verlangt um ins parlament zu kommen. ausserdem gibt es auch keine richtige basisdemokratie in den existierenden parteien wodurch auch eine erneuerung bzw anpassung an aktuelle politische realitaeten möglich ist...daher ist das ganze etwas komplizierter als es für sie zu sein scheint. der aktuelle protest ist parteiübergreifend und wird von allen "randgruppen" unterstüzt - den aleviten, kurden, lbgt, kemalisten, studenten, kommunisten, sozialisten, antikapitalisten....

  • M
    MaHa

    Brutale Polizeigewalt gibt es in allen EU-Staaten. Italien, Frankreich und Deutschland haben selbst schon sehr häufig Gewalt gegen friedliche Demonstranten angewendet. Es ist absolut hinterhältig von der CDU, von ihr selbst im Inland favorisierte Polizeigewalt als Ausschlusskriterium zu benutzen. Wenn die Türkei gar nicht der EU beitreten kann, wird sie sich außerdem viel eher in einen religiös geprägten Staat wandeln.

    Gewaltätige Übergriffe durch den Staat sollten die Zivilgesellschaften in Europa unbedingt anprangern - die Regierungen der EU sollten sich jedoch dringenst zurückhalten und lieber in ihren eigenen Vorgarten schauen.

  • DJ
    delphina Jorns

    Ich verstehe die in den Kommentaren (und auch sonst in den Medien) geübte Kritik an der Türkei als Land und den Türken als Volk nicht. Ich bin stolz darauf (und etwas beschämt), dass sich viele derer die für eine liberale und demokratische Türkei kämpfen auch in Europa zu Hause fühlen.

    Erdogan wird (hoffentlich sehr bald) eine Fussnote der Geschichte sein, der Gezi Park aber ein Meilenstein der Aufklärung.

  • T
    Tortes

    Eine demokratische, oder zumindest kemalistische Türkei wäre eher EU-tauglich als diese "gemässigt-islamistische" AKP-Türkei.

    Wenn man schon annehmen kann, dass der Türkei nie eine echte Chance auf EU-Mitgliedschaft gegeben werden sollte, weil sie ein islamisches Land ist, so hat Erdogan und seine durchgeknallte Polizeitruppe den Gegenern eines türkischen EU-Beitritts jetzt eine richtig gute Steilvorlage geliefert !

     

    Ob sich der autoritäre Regierungsstil Erdogans längerfristig auch auf die Tourismusbranche auswirkt, davon lebt das Land ja im wesentlichen, bleibt abzuwarten.

    Also ich als Europäer, der in einer demokratisch-bürgerlichen Zivilgesellschaft aufgewachsen ist, für mich ist der Regierungsstil Erdogans definitv fremd, das passt nicht zu meinem Kulturverständnis, in so ein Land reise ich nicht (mehr) so ohne weiteres.

     

    Die türkische Innenpolitik ist aktuell autokratischen Ländern, wie Russland oder China oder den arabischen Ländern, wesensverwandter als den europäischen Ländern.

    Zumal die moderne, aufgeklärte, europäisch orientierte Bürgerschicht, die momentan in der Türkei auf die Strasse geht, ja eine kulturelle Minderheit im eigenen Land ist.

     

    Ob sowas wie die Türkei unter Erdogan jemals in eine Gemeinschaft europäischer Staaten reinpassen kann, wage ich inhaltlich dann doch ernsthaft zu bezweifeln.

  • T
    T.V.

    Warum ist Deutschland denn nun in der EU, wo hier doch in ähnlicher Weise auf Demonstranten eingeprügelt wird?

  • SG
    Schmidt Georg

    ich finds immer eigenartig-der Mensch schlüpft in eine Uniform, wo lässt er seinen Charakter? er prügelt auf Mitmenschen ein, nimmt keine Rücksicht auf Alter und Geschlecht-man sollte sich echt mal Gedanken machen !

  • K
    Karl

    Für den Fakt, dass die Türkei ein EU-Anwärter ist, obwohl das Thema dort wohl momentan nicht das präsenteste ist, kommt mir zu wenig Druck von den Europäischen Ländern.

  • F
    FaktenStattFiktion

    Und? Wollen die sog. "Grünen" trotzdem dieses Land in der EU haben?

  • SS
    Seltsame Sache

    Ganz ehrlich. Dieses ganze Getue um den EU-Beitritt wurde sehr stark von der Union und FDP in Gang gesetzt. Meiner Meinung nach sollte der Türkei nie ein echter Beitritt ermöglicht werden. Für mich hat das alles auch einen eher religiösen Hintergrund. Man wollte unbedingt vermeiden, einen islamischen Staat in die EU aufzunehmen - die Kirchen, haben hier wohl einen Teil dazu beigetragen. Und die Union fischt natürlich gerne bei den Leuten, die die türkische Kultur in eine Dönerbude verfrachten. Komischerweise unterstützte man einen Herrn Erdogan, der die Gesellschaft islamisierte. Erdogan, der Journalisten, Schriftsteller und Militärs verhaften ließ - jüngst sogar 49 Juristen. Kein Wort hörte man hier in Deutschland darüber. Der Menschenrechtsbeauftragte der FDP Markus Löning faselte gestern in der Phönixrunde von den vielen Erfolgen Erdogans und versuchte ihn wo es nur ging zu verteidigen - so ein bisschen Kritik kam natürlich auch durch, muss ja sein...die AKP müsse mehr Meinungsverschiedenheit zulassen usw. Die AKP, ha - gilt nicht Fetullah Gülen als heimlicher Gründungsvater und Drahtzieher hinter der Partei?

    Wie auch immer, mir kommt das alles einfach nur total undurchsichtig vor. Bei einem türkischen Bekannten sah ich, dass ausländische Polizisten, die englisch sprachen, aber als türkische Polizisten gekleidet waren gefilmt wurden: "move it, move it" skandierten die, bevor sie auf eine Menge zugingen. Ob das vom Sender gefakt war, kann ich nicht beurteilen. Mein Bekannter zumindest meinte, der Sender würde immer sachlioch berichten.

  • G
    günther

    habe meinen türkeiurlaub gerade umgebucht ... sein volk niederknüppeln und ihm jegliche grundrechte vorenthalten ... DA BIN ICH NICHT MEHR DABEI !

  • PG
    Polizeigewalt gibt es auch in Kongo

    nicht nur in der Türkei prügelt die Polizei hemmungslos auf das Volk ein, auch im Kongo, nur darüber schreibt niemand, als gäbe es die Situation nur in der Türkei.

  • K
    kArl

    Danke, schön gesagt.

  • B
    Bachsau

    Es müsste eine gemeinsame Verfassung geben, and die sich alle EU-Staaten halten müssen, und die über dem nationalen Recht steht, bzw. dieses ersetzt.

  • T
    tommy

    "Dieses Land hat eine Zivilgesellschaft, die sich wehrt. "

     

    Nach allem, was ich bisher gelesen habe, steht die Mehrheit der Türken hinter der AKP. Die "Zivilgesellschaft" besteht aus urbanen Minderheiten ohne wirkliche Machtbasis, die letzten Endes auf verlorenem Posten stehen und die fortschreitende Re-Islamisierung wohl kaum aufhalten können; die Institution, die das traditionell getan hat, nämlich das Militär, ist ja mittlerweile weitgehend entmachtet worden - unter dem Beifall der EU. Aber bei Leuten wie Dachsel ist die Realitätsverweigerung eben Programm, man will eben nicht Abschied nehmen vom eigenen, zunehmend von den Ereignissen widerlegten Türkeibild. Hauptsache, man kann über böse Unionspolitiker schimpfen.