Kommentar Migration nach Nordamerika: Es bleibt nur Selbstermächtigung
Tausende ZentralamerikanerInnen befinden sich derzeit auf einem Marsch gen Norden. Die Menschen zwingen die USA zum Umdenken.
D ie Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gibt den Tausenden Recht, die ihre zentralamerikanischen Heimatländer verlassen haben und sich gerade quer durch Mexiko Richtung USA bewegen. In Artikel 13 Absatz 2 heißt es dort: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.“
Nur, und das ist die Crux sowie längst auch als Vorbehalt im Artikel 12 des UN-Zivilpaktes verankert: Dem uneingeschränkten Recht auf Aus- steht kein ebensolches Recht auf Einwanderung gegenüber. Im Klartext: Wer das Recht auf Ausreise wahrnehmen will, sieht sich Zäunen, Grenztruppen, Mauern und Stacheldraht gegenüber. So wird die legale und menschenrechtlich garantierte Auswanderung zur illegalen Einwanderung.
Diesen Widersinn selbst international übergeordneter Rechtsregelungen kann überhaupt niemand akzeptieren, der sich durch die Umstände in seinem Heimatland dazu gezwungen sieht, sich auf den Weg zu machen. Übrig bleibt letztlich nur die Selbstermächtigung. Und genau das tun die Reisenden der Karawane.
Sie stellen damit infrage, was die wohlhabenderen Zielländer, in diesem Fall die USA, aber auch alle anderen, als selbstverständlich erachten: dass sie selbst darüber bestimmen können, wer innerhalb ihres Staatsgebietes lebt und an ihrem Reichtum partizipiert. Moraltheoretisch ist das interessant: Das eine Recht, das zum Verlassen einer aussichtslosen Situation, ist menschenrechtlich garantiert – wird aber faktisch nicht gewährt. Das andere, das der Abwehr Bedürftiger, ist moralisch schwer bis gar nicht zu begründen, juristisch aber bestens abgesichert.
Die Folgen der Ausbeutung zu leugnen, funktioniert nicht
Im Falle der zentralamerikanischen Auswanderung Richtung Norden kommt noch hinzu, dass die Region extrem durch die inzwischen gut 200-jährige Dominanz der regionalen Hegemonialmacht geprägt ist: durch die immer wiederkehrenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interventionen der USA. Von wenigen Indigenen-Gebieten abgesehen hat eine erschreckend umfassende, auch kulturelle Assimilation an den Hegemon im Norden stattgefunden – ohne aber an dessen Reichtum teilhaben zu dürfen.
Damit kommt der Norden schlicht nicht mehr durch. Globale Ausbeutungsstrukturen aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Folgen davon in Gestalt von Migration leugnen oder gewaltsam bekämpfen zu wollen, kann auf Dauer nicht funktionieren. Aber weil genau diese Erkenntnis keine Konsequenzen hat außer dem Versuch, die Grenzmauern immer noch höher zu ziehen, braucht es die Karawanen, die gemeinsam die Grenzen überwinden. Vor den Menschen muss niemand Angst haben. Aber sie zwingen zum Umdenken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin