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Kommentar Katastrophe im MittelmeerDie Pflicht, einzugreifen

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Es gibt eine völkerrechtliche Verpflichtung zum Handeln im Falle von „großem Verlust an Menschenleben“. Worauf warten wir also?

Das Mittelmeer ist voller Kriegsschiffe – Seenotrettung ist machbar. Bild: ap

E s reicht. Das tägliche Massensterben im Mittelmeer erreicht unvorstellbare Ausmaße. Maltas Premierminister Joseph Muscat spricht bereits von „Genozid“ und warnt: „Mit der Zeit wird Europa hart für seine Tatenlosigkeit verurteilt werden, wie es verurteilt wurde, als es vor Völkermord die Augen verschloss.“

Aus dem Unvermögen, der gezielten Tötung von über 800.000 Menschen in Ruanda 1994 ein Ende zu setzen, hat die internationale Staatengemeinschaft eine Lehre gezogen: die völkerrechtliche Doktrin der „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect). Nach der Definition der dafür eingesetzten UN-Arbeitsgruppe enthält diese Verantwortung eine völkerrechtliche Verpflichtung zum Handeln im Falle von „großem Verlust an Menschenleben als Ergebnis entweder gezielten staatlichen Handelns oder staatlicher Vernachlässigung oder staatlicher Handlungsunfähigkeit, ob mit Völkermordintention oder nicht“.

Worauf warten wir also? Es wird viel diskutiert über Seenotrettung, über legale Einreisemöglichkeiten, über Verbesserungen in den Herkunftsländern. Das ist alles wichtig. Aber es wird keinen einzigen Flüchtling, der in Libyen sitzt, davor bewahren, auf einem seeuntauglichen Boot in den Tod geschickt zu werden.

Nötig ist jetzt eine sofortige, international koordinierte Evakuierungsaktion für die Insassen der libyschen Transitlager, in denen Flüchtlinge unter Kontrolle von Schmugglern interniert sind und auf den Befehl zur Abreise warten. Es geht um klare Gruppen mehrerer Tausend Menschen in höchster Lebensgefahr. Die Lager, in denen sie leben, sind bekannt, ihre Insassen reisefertig.

Militärisch ist es machbar. Europäische und US-amerikanische Truppen evakuieren routinemäßig Landsleute aus solchen Krisensituationen. Das Mittelmeer ist schon voller Kriegsschiffe. Notfalls muss man Milizen, die sich wegen drohenden Geschäftsverlusts in den Weg stellen könnten, entschädigen – Staaten, die ihre al-Qaida-Geiseln in Afrikas Sahelzone freikaufen, können auch für Bürger anderer Länder aufkommen.

Eine Utopie? Im Wege steht höchstens die Unklarheit darüber, was mit den Geretteten geschehen soll. Aber das ist ein Ausdruck von Menschenverachtung. Europa hat schließlich kein Problem damit, Überlebende aus dem Meer zu fischen, nachdem ihre Reisegefährten ertrunken sind. Also kann es die Menschen auch aufnehmen, bevor sie tot sind.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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6 Kommentare

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  • Moralisch, menschlich und politisch gesehen ist Europa zur Rettung verpflichtet. Nicht jedoch rechtlich.

     

    Die Doktrin der "Responsibility to Protect" ist gerade nicht völkerrechtlich anerkannt. Die Quellen des Völkerrechts sind nicht UN-Arbeitsgruppen, sondern Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung, als Bestandteile des Völkergewohnheitsrechts. Und die Staatenpraxis ist weit entfernt davon die RTP-Doktrin anzuerkennen, da diese darauf abzielt, Staaten ihre Souveränität abzuerkennen im Falle unterlassener Hilfe. Steht in jedem Völkerrechtslehrbuch.

     

    Bitte erst informieren, bevor sich auf das Völkerrecht berufen wird. Sonst verkommt es leider wirklich nur zur Farce.

  • Dass die Not groß sein muss, damit jemand sein eigenes Leben und das seiner Kinder riskiert, ist unstrittig. Ob die Flüchtlinge wissen, auf welchen Horrortrip sie sich einlassen und wie groß die Chance ist umzukommen, ist eine andere Frage.

    Die europäische Hartherzigkeit beruht glaube ich aber auch auf der Annahme, dass es sich bei den Flüchtlingen, die sich den Seelenverkäufern anvertrauen, bis zu 1000 Euro zahlen, um willentlich und wissentlich handelnde Menschen handelt.

    Sie ganz aus der Verantwortung zu nehmen und eindimensional zu Opfern abzustempeln, die in Libyen sitzen, um "auf einem seeuntauglichen Boot in den Tod geschickt zu werden", ist aus dieser Sicht eine streitbare Aussage.

    Ich denke, dass viele Europäer den Arabischen Frühling insgeheim verwünschen, der zum Zusammenbruch des Regimes in Tripolis führte. Lieber ein Gewaltherrscher, der durchgreift, als das jetzige Chaos… Eine für Realpolitik typische Haltung, ob gewissenlos oder nicht.

    Ob sich diese Haltung vor allem in Deutschland ändern lässt, ist Zweifelhaft. Die Politik weiß ja ganz genau um die vorherrschende Stimmung im Lande, die in AfD und Pegida ihren Ausdruck findet. Ich habe den Verdacht, dass die Menschen in D ganz gut damit leben, den Kopf in den Sand zu stecken.

  • Indem wir das Mittelmeer zu einer Todeszone werden ließen, haben wir als Westeuropäer jede Glaubwürdigkeit verspielt. Als Mare Nostrum abgeschafft wurde, wussten die Beteiligten, dass dies für viele Menschen den Tod bedeuten würde. Durch Tote wollte man Lebende abschrecken. Immerhin 6500 Unterzeichner dieser Petition fordern eine "Seenotrettung für Flüchtlinge jetzt" und bitten Frau Merkel, Menschlichkeit zu zeigen: https://www.change.org/p/seenotrettung-f%C3%BCr-fl%C3%BCchtlinge-jetzt Denn die Bundesregierung könnte eine umfassende Seenotrettung durchsetzen. Derzeit will man aber nur kosmetische Maßnahmen, die Verdoppelung der verfehlten Trikont-Mission kann das Sterben nicht stoppen. Eine umfassende Seenotrettung ist nötig mehr denn je. Natürlich müssen die Fluchtursachen - Kriege, Verfolgung, Elend - angegangen werden. Aber dass Sterbende sofort gerettet werden müssen, dies sollten alle wissen, die noch wissen, was Menschlichkeit ist.

  • Es gibt zwei Ursachen für die Todesfälle und beide liegen in der Verantwortung der Deutschen.

     

    1. Die Deutschen lehnen mehrheitlich Asylbewerber ab, finden aber keinen Konsens, ihr Asylrecht entsprechend anzupassen.

     

    2. Um nicht am Asylrecht in D rütteln zu müssen, wurde die EU-Grenzregelung erfunden und Länder wie Griechenland müssen das Desaster (im Falle von GR wohl bezahlt) ausbaden.

     

    Das einfachste wäre, ab sofort die vielen nicht ausgelasteten griechischen Schnellfähren für den Transport Afrika-Bremen einzusetzen.

    300.000 Flüchtlinge pro Woche sollten da keine technische Herausforderung sein.

     

    Dann muss Deutschland die Hosen runter lassen und zeigen, ob die Bevölkerung wirklich hinter dem Asylrecht steht oder ob es zeitnah eine neue Republik gibt.

  • Israel könnte Flüchtlinge aufnehmen. Saudi-Arabien und Golfstaaten ebenso.

     

    Völkerrechtliche Verpflichtungen gelten nicht nur für Europa.

  • "Fähren statt Frontex" lautete einer der Slogans bei einer Kundgebung und Demonstration mit 1000 Teilnehmer_innen heute in Bremen.

    und "Nein zum Inhaftierungsgesetz", der Änderungen des Asyl-Aufenthaltsrechts