Kommentar Grüne in Deutschland: Die Beilagen-Partei
Wer die Grünen sind, ist mit der Entscheidung für Göring-Eckardt und Özdemir geklärt. Doch was die Partei anzubieten hat, ist völlig unklar.
I mmerhin weiß man jetzt, wer die Grünen sind. Deren Mitglieder haben zwei realogrüne Politprofis zu Spitzenkandidaten gewählt. Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir sind überdies zwei, die sich in Regierungsverantwortung auch mal schmutzig machen würden. Die Basis wusste das. Die Basis wollte das. Die Basis war Boss. Auf diese Weise charakterisiert die Urwahl auch die Mehrheit der Mitglieder: Bürgerlich, kompromisslerisch und dickfellig.
Die Republik ist gerade ein Reizraum voll schriller Klingeltöne. Da haben die Grünen – keine Ironie, wir kommen noch zu den Problemen – zwei starke Leute im Angebot.
Göring-Eckardt und Özdemir. Eine Ostdeutsche und der Sohn einer Einwandererfamilie. Dies ist ein besonderer Umstand in einer Zeit, in der Ostdeutschland aufgerührt und Integration ein Riesenthema ist. Die Besonderheit besteht auch darin, dass bei den Grünen Einwanderer und Ostdeutsche kaum eine Rolle spielen. Umso erstaunlicher, dass diese beiden sich durchgesetzt haben. Göring-Eckardt, die kühle Neunundachzigerin und Cem Özdemir, den die Partei selbst immer wieder zum Außenseiter gemacht hatte. Es spricht für die Grünen zwischen Tübingen und Göttingen, dass sie zwei wählen, die aus anderen Milieus kommen als sie selbst.
Allein: Was die Grünen anzubieten haben, ist unklarer denn je. Wofür stehen sie? Was setzen sie auf die Agenda? Was wollen sie überhaupt? Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün – als Neun-Prozent-Partei ohne Thema können sie beides vergessen. Woche für Woche geht es in nervtötender Weise darum, ob die Grünen dieses begrüßen oder jenes verurteilen. Bisweilen sind sie – Höchststrafe – auch offen für Gespräche. Sie sind zu Deutschlands Was-sagen-die-dazu?-Partei geworden. Wenn man sich eine politische Debatte als Tellergericht vorstellt, dann sind die Grünen bestenfalls die Beilage.
Es war mal anders. Waldsterben, Abrüstung, Atomausstieg. Die Grünen machten Themen groß. Die anderen mussten sich dazu verhalten. Selbst in der Regierung etablierten die Grünen ein neues Thema, an dem niemand vorbeikam: Renate Künasts Agrarwende.
Anämische Rolle
Heute regieren die Grünen auch. In elf Bundesländern. Hängen bleibt, dass sie im Bundesrat mal etwas mitmachen und – seltener – mal etwas blockieren. Regierung oder Opposition – die Rolle bleibt anämisch: Was sagen die dazu?
Die Linksgrünen, die gern behaupten die Inhalte zu haben, mit denen alles gut wird, haben keine Mehrheit. Und keine Angebote, die Wähler_innen ziehen.
Tablets im Klassenzimmer, aber marode Klos. Die Deutschen, Hygieneweltmeister und Erfinder aller Sekundärtugenden, lassen die Toiletten ihrer Kinder verrotten. Was Schüler, Eltern, Urologen, Putzfrauen dazu sagen: der große Schulklo-Report in der taz.am wochenende vom 21./22. Januar 2016. Außerdem: Ein Besuch bei den Nazijägern in der Zentralen Stelle in Ludwigsburg. Und: Eine Nachbetrachtung der Urwahl bei den Grünen. Das alles und noch viel mehr – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Es stimmt ja: Reiche gehören härter besteuert in Deutschland. Die Ungerechtigkeit stinkt. Aber die Grünen sind in Fragen der Steuergerechtigkeit eben eine Zwischengröße, irgendwo zwischen SPD und Linkspartei. Und strategisch betrachtet ist Umverteilung nicht das Thema, das das große grüne Wählerpotenzial der Bio-Bohemiens bindet. Eher schwappt ihnen vor Schreck der Barolo über.
Und die Agrarwende? Ist nötig und wichtig. Sie berührt den Alltag. Aber das Thema, das die Grünen in den vergangen Jahren durchaus gepflegt haben, hat keine Konjunktur. Es wird verdrängt vom Streit um Flüchtlinge, der Debatte um den Antiterrorkampf und der Sorge um die demokratiefeindlichen Bewegungen.
Gefahr des Stillstands
Vielleicht könnte das einzigartige Angebot der Grünen in der Synthese von Energie- und Außenpolitik bestehen: Weg vom Öl, das die Kriegstreiber stark macht und den Klimaschutz schwach. Robert Habeck, bei der Urwahl der Zweitplatzierte knapp hinter Özdemir, hat das erkannt. Er könnte Nachhilfe geben. Öl ist ein großes Thema. Oder Migration. Vielleicht ist Özdemir auch der Mann, der beantwortet, wie die Geschichte der Flüchtlinge jetzt weitergeht. Denn die Integrationspolitik verliert sich gerade irgendwo zwischen Residenzpflicht und Billigpraktika.
Aber die Gefahr besteht, dass die Grünen trotz der Urwahl gefangen bleiben. Dass sie sich auf ewig vertagen in innerparteilichen Koalitionsverhandlungen. Auch eine Minderheit werden Göring-Eckardt und Özdemir einbinden müssen, und die Linksgrünen werden empfindlich sein wie nie. Gerade weil sie so dramatisch verloren haben. Doch wer ist da überhaupt noch? Anton Hofreiter steht nach seiner Niederlage bei der Urwahl niedrig im Kurs. Mit Simone Peter plant niemand mehr. Dafür sprengt die Aktie Trittin die Charts. Er wäre gern Teil der Antwort auf die Wer-Frage.
Aber die Was-Frage beantwortet auch Jürgen Trittin nicht. Neulich erschien im Spiegel ein Porträt über ihn. In Gegenwart des Journalisten regte er sich auf, wie die Grünen den Präsidentschaftskandidaten Steinmeier kommentieren. Als ob Politik aus Presserklärungen bestünde. Aus Sprachregelungen. Aus einem ewigen Was-sagen-die-dazu. Good night and good luck.
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