piwik no script img

Kommentar Griechische AusteritätspolitikMacht der Gewohnheit

Jörg Wimalasena
Kommentar von Jörg Wimalasena

Noch ein Sparpaket in Griechenland? Das empört kaum noch jemanden. Dabei wäre ein Aufschrei jetzt wichtiger denn je.

Das Parlament in Athen soll das nächste Sparpaket durchwinken – und niemand regt sich auf Foto: dpa

D en wilden Gram macht die Gewohnheit zahm“ schreibt William Shakespeare. Will meinen: Wenn ein Missstand nur lange genug besteht, regt man sich nicht mehr darüber auf. Und so ist es auch in Sachen Griechenland: Der wilde Gram der Austeritätsgegner ist inzwischen zahmer Gleichgültigkeit gewichen.

Fast beiläufig meldeten viele deutsche Medien Anfang der Woche eine Einigung zwischen Griechenland und seinen Geldgebern – obwohl die Einschränkungen, denen Athen zugestimmt hat, drastisch sind. Um bis zu 18 Prozent sollen die Renten ab 2019 sinken, der Steuerfreibetrag für Geringverdiener soll 2020 abgesenkt werden.

Kommentiert wurde das in der deutschen Presse kaum, öffentlicher Protest gegen die harten Einschnitte gab es ebenfalls nicht. Denn die Abfolge aus kleinteiligen Schuldenverhandlungen, Kompromissen und Sozialkürzungen ist seit Jahren zu sehr gewohnt, um sich über jede Einzelmaßnahme noch aufzuregen. Und so sind sie verstummt, die gezähmten Austeritätskritiker.

Dabei wäre ein Aufschrei gegen das europäische Schuldenregime jetzt wichtiger denn je. Denn Griechenland leidet. Seit Beginn der Haushaltskrise 2009 bis Ende 2015 ist die Selbst­mord­rate laut einer aktuellen Studie des Imperial College in London jedes Jahr um 7,8 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum ist die Geburtenrate jährlich um 3,9 Prozent gesunken. Die Kindersterblichkeit nahm im Gesamtzeitraum um 26 Prozent zu.

Grund für diese Entwicklungen dürften mittelbar und unmittelbar die Finanzkrise und die darauf folgenden Sparmaßnahmen sein. „Wir verhungern hier“, hört man die Menschen auf den Straßen von Thessaloniki klagen. Auch davon liest man in Deutschland selten.

Kein Ende in Sicht

Während griechische Rentner und Geringverdiener nun abermals Kürzungen hinnehmen müssen, werden unter der Aufsicht der Gläubiger profitable Staatsunternehmen zum Schleuderpreis an Investoren verpachtet.

Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. Griechenland ist auf Jahrzehnte verschuldet, selbst der Internationale Währungsfonds zweifelt an der Schuldentragfähigkeit des Landes. Mit jeder neuen Sparmaßnahme wird Griechenland weiter auf den Stand ­eines ­Entwicklungslands zurückgeworfen. Das sollte eigentlich Schlagzeilen wert sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jörg Wimalasena
Redakteur Inland
bis Januar 2022
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Ich kann verstehen, wenn man die Renten kürzen will, da das Grichische Rentensystem total überdimensioniert war. Das Problem dabei ist nur, dass dieses System im Prinzip das komplette Sozialversicherungssystem darstellt. Heißt übersetzt, dass die Rentner auch ihre Arbeitslosen Kinder und Enkel mitversorgen müssen, da diese ansonsten Quasi nichts haben. Mit einer blosen Rentenkürzung schafft man somit nur Leid, da man so vielen Familien die Existenzgrundlage entzieht. Von daher ist es dringend an der Zeit, dass Griechenland eine ordentliche Arbeitslosenhilfe einführt, zumal diese dem Bedarf deutlich besser gerecht wird als das vorherige System. Aber ohne jegliche Hilfe wundern mich die Genannten Selbstmordraten etc. nicht im geringsten.

     

    Dass die Geldgeber da mitmachen würden, halte ich jedoch für ausgeschlossen....

  • Griechenland war bereits vor der Finanzkrise hochverschuldet. Der Unterschied ist doch lediglich, dass das Land heute keine weiteren Kredite mehr am Markt erhält. Das Land könnte dem jederzeit ein Ende setzen und den Staatsbankrott erklären.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @DiMa:

      Dann müsste es eine eigene Währung einführen und seinen Bürgern die harte Wahrheit zumuten, dass das Land schon immer wirtschaftlich gesehen dritte Welt war. Dazu kommt das Griechenland in allem Importabhängig ist, die Leute würden auf das Wohlstandsniveau von Nigeria zurückfallen, mit dieser "Rettungspolitik" kann man den Verfall ein wenig ausbremsen und man hat einen Sündenbock.

  • Ist Scheisse, das die griechische Zivilbevölkerung `blutet´!! Die Ironie des Schicksals liegt m.E. darin: Griechenland, das Antike Land des Ursprunges der "Säkulären Moderné", der gut strukturierten Stadtstaaten, der Freiheit des Geistes ... Wieso es sein konnte, das diese "Wiege westlicher Zivilisation" von `entfesselter Habgier ökonomischer Theorien´( EZB, Neoliberalismus der Banker etc) so dermassen verführt und missbraucht wurde? .. und nun immer noch am Tropf des euro hängt.. Ist zu hoffen das Yannis Varoufakis es schafft, mit seinem "DIEM 25" zu Klarheit und Alternativen zu gelangen!

    Meine Freundin und ich, wir werden nun `erst recht´ wieder Sonnenferien in Hellas verbringen...***

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @vergessene Liebe:

      Die tiefergründigen Probleme Griechenlands sind hausgemacht, es muss sich ja nicht einem Sparprprogram und Reformen unterziehen weil es eine soldie Wirtschaft und einen funktionierenden Staat hatte. Und Urspurng der säkularen Moderne ist Frankreich, man denke an Sokrates, der schlauste Mensch aller Zeiten in den Selbstmord getrieben weil er angeblich atheismus propagiert hat.

      Griechenland steht es frei jeerzeit den Euro zu verlassen, dann würden die Griechen aber noch viel mehr verarmen. Wollen die Griechen Schulden machen die von anderen Euro-Ländern garantiert werden müssen sie damit rechnen das diese ihnen auflagen machen.

  • "Grund für diese Entwicklungen dürften mittelbar und unmittelbar die Finanzkrise und die darauf folgenden Sparmaßnahmen sein."

     

    Auf Grund so einer wagen Vermutung wollen Sie über Millarden entscheiden? Könnte es nicht auch an der Vetternwirtschaft und der Korruption in Griechenland liegen? Wenn das der Fall ist, müssten das die Griechen ändern. Es scheint aber, dass sie das in 7 oder 8 Jahren der Kriese nicht für notwendig gehalten haben.