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Kommentar Die SPD ist das neue NetflixAbo bei den Sozialdemokraten

Martin Reichert
Kommentar von Martin Reichert

Ihre Wählerstimmen werden weniger, ihre Mitglieder werden mehr. Die SPD ist billig zu haben und man muss sich ja nicht ewig an sie binden.

Parteibücher und markige Performances als Bergarbeiter sind etwas für SPDler von gestern (Archivbild 2009) Foto: ap

G eben Sie mal „SPD“ und „Neueintritte“ bei der Suchmaschine Ihrer Wahl ein – Sie werden überrascht sein. Von Flensburg bis Saarbrücken, überall neue Mitglieder, während zugleich überall und in allen Tonlagen das Ende der Sozialdemokratie heraufbeschworen wird.

Auch in Freiburg, so berichtet Daniel Becker (26), Apotheker und Juso-Vorsitzender der Schwarzwald-Me­tropole in der Badischen Zeitung, gebe es einen Run auf das SPD-Parteibuch: „Na ja, zu anderen Zeiten gibt es hier vielleicht mal zwei, drei Mitgliedsanträge am Tag. Im Moment meldet sich hier etwa stündlich ein SPD-Neumitglied an. Im Januar 2017 lagen wir bei 920 Mitgliedern, gestern waren’s 1.160.“

Der große Erfolg aber hat laut Daniel Becker nichts mit dem Juso-Slogan „Tritt ein, sag Nein“ zu tun, mit dem die Jusos dazu aufgerufen hatten, in die SPD einzutreten, um beim Mitgliederentscheid den Koalitionsvertrag ablehnen zu können – und dem die Jusos aus Nordrhein-Westfalen dann noch die perfekte Drehung gegeben hatten: „Ein Zehner gegen die Groko“, das ist in Euro die Summe, die man für zwei Monate Parteimitgliedschaft aufbringen muss. (5 Euro im Monat, das ist der Mindestbeitrag bei einem Einkommen von bis zu 1.000 Euro im Monat.)

10 Euro, ungefähr so viel kostet auch ein Monat Mitgliedschaft bei dem Streamingdienst Netflix, der mit dem Slogan „See what’s next. Überall ansehen. Jederzeit kündbar“ wirbt. Wenn es auch dort schon bei 7,99 Euro im Monat losgeht (will man auf mehreren Geräten schauen, sind 10.99 Euro fällig), klingt das Angebot doch fast ähnlich. „See what’s next“, damit ist die mitunter wundersame Entwicklung bei der SPD doch auch ganz gut beschrieben. Gabriel, Schulzzug, Bätschi, nicht regieren, sondieren – irgendwas ist immer.

Ein bisschen was bleibt immer hängen

Vor allem aber ist in der SPD jetzt die Generation Kevin am Drücker, und die hat sich sowohl vom linearen Fernsehen als auch von der Idee einer lebenslangen Parteimitgliedschaft wie anno dazumal längst verabschiedet. Mag sein, dass einem das rote Parteibuch früher quasi schon bei Geburt in der Bergarbeitersiedlung in die Wiege gelegt wurde, heute sind die Zechen längst geschlossen, und Parteibücher haben die Größe von Kreditkarten.

Auch wenn Kevin selbst, also der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert, nun behauptet, er habe gar kein Interesse daran, dass politisch Interessierte nur in die SPD eintreten, um eine Große Koalition zu verhindern, so hat er doch auch nichts dagegen, wenn sich die Neumitglieder, ganz in seinem Sinne, gegen eine Neuauflage der Großen Koalition wehren.

Mag ja sein, dass überall der gleiche Scheiß drin ist, die Jugend möchte trotzdem wenigstens die Illusion einer Auswahl.

Wenn sie doch schon mal da sind, können sie sich gleich nützlich machen. Und wieder ist es ähnlich wie bei Netflix, aber auch bei Abo-Aktionen von Tageszeitungen: Ein bisschen was bleibt immer hängen. Mag ja sein, dass ein Großteil nur kurzfristig eingetreten ist, um gegen die Groko zu stimmen, aber wie viele von ihnen werden vergessen, später wieder auszutreten? Die vor ein paar Monaten wegen Schulz eingetreten sind, sind ja auch noch da.

Andere haben Bedenken: Dieser Haufen aus Politleichtmatrosen, Millen­nialschnullis und Hans-Guck-in-die-Luft-Neumitgliedern soll nun also über die Zukunft der größten Volkspartei des deutschen Volkes entscheiden?

Da hat die Parteispitze mal lieber einen Stichtag festgelegt, könnte ja jeder kommen: Stichtag also 6. Februar, 18 Uhr. Wer bis dahin in die SPD aufgenommen worden ist, kann auch mit über eine Große Koalition abstimmen – wenn er oder sie offiziell von einem SPD-Ortsverband aufgenommen und in der Mitgliederdatei registriert worden ist.

Keine Schicksalsgemeinschaft

Nein, das Treiben des Nachwuchses, es löst nicht nur Freude aus bei den Altgedienten. „Es ist ein Irrglaube, dass man meint, die Demokratie könne dadurch gewinnen, wenn man solche Aktionen macht“, so hatte sich die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer über „Tritt ein, sag Nein“ geäußert.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Ohne recht zu begreifen, dass eine Große Koalition eben bedeutet, Netflix und Amazon Prime zusammenzulegen, ARD und ZDF zu fusionieren. Aldi und Lidl, Mercedes und BMW – alles eine Soße. Mag ja sein, dass überall der gleiche Scheiß drin ist, die Jugend möchte trotzdem wenigstens die Illusion einer Auswahl.

Das wäre doch wohl das Mindeste, was man erwarten kann – insofern gibt es auch überhaupt keinen Grund, auf die Generation Kevin einzudreschen. Im Gegenteil. Warum sollte es eigentlich die Demokratie schädigen, wenn man nicht sein Leben lang Mitglied bei einem Verein sein möchte? Eine Partei ist ja schließlich keine Schicksalsgemeinschaft.

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Martin Reichert
Redakteur taz.am Wochenende
* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien
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12 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Alles schön und gut - diese historischen Analysen, doch leider nicht den geschichtlichen Tatsachen entsprechend. Der Niedergang der SPD begann mit Kurt Schumacher. Sein persönlicher Antikommunismus spaltete die SPD bereits 1945. Vier Jahre vor der Gründung der DDR .

     

    Die SPD entwicklte sich nun zu einer Partei des kleineren Übels. Der unternehmerfreundliche Kurs wurde mit sozialpolitischen Almosen dem gemeinen Volk schmackhaft gemacht. Der einfache SPD-Genosse war gewohnt aus Parteidisziplin jeden Beschluss der Funktionäre gut zu heißen und zu preisen. Wer dem nicht folgte, der wurde ausgeschlossen. Erinnern wir uns daran, dass die Hochschulorganisationen der SPD zweimal verboten wurden, bis dann endlich die stromlinienförmigen JUSO-Hochschulgruppen entstanden.

     

    Vom SDS oder dem SHB redet niemand mehr. Sie wurden Opfer des regierenden Parteigremiums "Seeheimer Kreis".

     

    Das Godesberger Programm stellte dann einen PR-Gag dar, weil die SPD sich damit vor den ständigen Anfeindungen der CDU/CSU, also der Mutterpartei der heutigen AfD, schützen wollte.

     

    Seit Eberts Zeiten verfolgt die SPD eine Defensivstrategie. Man schleimt sich in das Machtzentrum ein. Ihre Mitglieder haben Gehorsam zu leisten. Eine Eigenschaft, die ausgerechnet ein Kurt Schumacher als existenziellen Ausschlussgrund einer Zusammenarbeit zwischen SPD und KPD den Kommunisten vorwarf.

     

    Willy Brandt war ebenso Antikommunist, wie Renegat Wehner oder ein Helmut Schmidt. Willy Brandts Erfolg war es die betonierte Ostpolitik des kalten Krieges aufzubrechen. Helmut Schmidt förderte den heute herrschenden Neoliberalismus und in Folge dieser Entwicklung hat sich die SPD selbst überflüssig gemacht.

     

    Das deutsche Wählerspektrum wird von den Parteien AfD, CDU/CSU, FDP und Grüne erfolgreich abgedeckt. Die Meckerer und Systemzersetzer streiten sich bei der Linken herum. Der verdummte BILD-Leser wählt AfD, der ewig gestrige CDU/CSU und Grüne, der skrupellose Absahner die FDP.

     

    Die SPD wird nicht gebraucht.

  • Ich wusste gar nicht, dass sog. Linke auch witzig schreiben können. Oder ist das oben das letzte Aufglühen vor dem Verlöschen?

  • Erfrischend pessimistisch, dieser Artikel. Widerspruch? Die SPD führt sich ja auch so ad absurdum...

  • Die Mitgliederbefragung der SPD ist zu tiefst undemokratisch.

    Die Partei hat vor der Wahl Abgeordnetenlisten verabschiedet, sie hat vor der Wahl die Programme verabschiedet und jetzt - nach der Wahl - macht die SPD mit den Wählerstimmen was sie will!

    Die gewählten Volksvertreter sollten bestimmen! Wie sie sich entscheiden ist mir egal. ABER der SPD Ortsverein hat kein Mandat von mir bekommen, um nach der Wahl über die Bundespolitik zu entscheiden.

    Der Wähler wird durch die SPD entmündigt. Selbst SPD Mitglieder, die zur Bundestagswahl keine Wahlberechtigung hatten, übernehmen jetzt die Entscheidungsgewalt.

    Die Gruppe der Parteimitglieder entscheidet über die Zukunft der Deutschen Politik.

    Wo sind unsere Abgeordneten? Die verkommen zu Erfüllungsgehilfen der Parteien.

    Arme Demokratie.

    • @Kay Wolde:

      mal ganz langsam, niemand zwingt die SPD eine Koalition zu machen, sie wurden gewählt, grundsätzlich kann jeder Abgeordnete machen, was er will, er könnte auch nichts tun. Warum Politiker trotzdem manchmal was tun: Sie wollen etwas verändern oder aber sie wollen erneut gewählt werden. Die gewählten Volksvertreter müssen natürlich nicht auf ihre Partei hören, allerdings haben sie genauso wenig eine Verpflichtung bei einer GroKo mitzumachen

  • Das Problem der deutschen Sozialdemokratie sind digitalschnullernde Nachwuchsfunktionäre*innen, die nach dem Kindergarten nie mehr eine Schaufel in der Hand hatten.

  • Die SPD ist keine soziale Partei (mehr), genausowenig wie die CDU eine christliche Partei ist...Seit Schröder ist das Haus der SPD entkernt und es steht eine hohles ETWAS herum, das weder sozial noch den Anspruch hat, für das untere Drittel des Volkes zu sprechen und zu kämpfen...Die alte Polit- Garde, besteht aus Partei-Bonzen, und kaum einer kennt mehr aus eigener Erfahrung, wie es ist am Band oder im Bau zugeht, bei REWE an der Kasse zu sitzen oder oder...Diese Kaste von Berufs-Politiker hat nie etwas anderes gemacht, als wüssten Sie was Arbeit ist...Die SPD hat sich selbst absolet gemacht und wird zurecht abgestraft...Als Beispiel sind die Mini- Ergebnisse in der GROKO-Zeit und bei Schröder mit seinem sozial- Kahlschlag (30 % Rentenkürzungen) zu besichtigen.....Neidisch schaut man nach Österreich oder die Schweiz, wo noch ein sozialer Grundkonsenz herrscht...

  • SPD ist nun die mitgliederstärkste Partei in Deutschland. Wie sieht es bei den anderen aus?

     

    CDU und CSU haben als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien im vergangenen Jahr 2017 Mitglieder verloren. Die Zahl der CDU-Mitglieder sank laut Angabe der Parteizentrale bis Ende November um 3.510 auf 427.173, schreibt der „Spiegel“. Die CSU verlor etwa 1.000 Mitglieder und kommt auf rund 141.000 Mitglieder.

     

    Anfang November zählten die Grünen 64.100 Mitglieder, und damit über vier Prozent mehr als im Vorjahr.

     

    Die Linke hatte erstmals seit 2009 einen deutlichen Mitgliederzuwachs. Ihr gehörten am 9. November 62.182 Menschen an, 3.272 mehr als Ende 2016.

     

    Die AfD wuchs von rund 26.000 Mitgliedern im Januar auf etwa 29.000 zum Jahresende.

     

    Die Liberalen gewannen zwar bis Anfang Dezember 11.513 neue Mitglieder. Diese Zahl ist aber noch unbereinigt.

    http://www.epochtimes.de/politik/deutschland/mitgliederzahlen-der-deutschen-parteien-spd-vor-cdu-a2307509.html

  • 3G
    33293 (Profil gelöscht)

    Zeit für Nahles, Schulz, Gabriel, Dreyer etc. zu gehen,

    - macht endlich Platz für neue Leute mit Ideen!

    Eine Erneuerung kann es mit diesen Gestalten eben nicht geben!

  • "Die SPD ist billig zu haben" - für das Finanz- und Monopolkapital.

     

    Vor Jahren erklärte mir ein junger Praktikant in einer Berliner Klinik, er wäre noch am überlegen, ob er wegen seiner beabsichtigten Karriere doch noch Mitglied bei der SPD werden würde.

     

    Eben, die Spezialdemokratische Parteiführung Deutschlands (SPD) macht es der gutbürgerlichen und karrierebewussten Jugend vor. Nur könnte es bei dem anstehenden Gerangel um die Partei- und Beamtenposten noch ganz eng werden, sollte die Wirtschaft nicht für ihre Sozialpartner*innen entsprechend gut-geschmierte Lobbyposten zur Verfügung stellen.

     

    Aber die Geschäftsleitungen der Kapitalgesellschaften könnten durchaus Spezial- und Integrationsarbeiter*innen mit Partei- und Parlamentserfahrung für ihre Personalabteilungen und Aufsichtsgremien gebrauchen. Zumindest für die gegenwärtige führende SPD-Generation wäre die materielle Zukunft in der Industrie und deren staatsmonopolistischen Lobbyverbindungen noch gesichert.- Oder etwa doch nicht mehr?

  • 4G
    42711 (Profil gelöscht)

    "Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie verboten". Kennt ja jeder, den Ausspruch.

    Und nun haben die Alt-Sozen die Hosen voll, nur weil ganz vage die Möglichkeit auf Änderung besteht und sie vielleicht doch nicht wieder an die fettesten Fleischtöpfe kommen. Und bei einem solch demokratischen Vorgang fürchten sie natürlich um die Demokratie.

    Ist ja logisch.

  • Vorher noch Willy Brandt lesen: Mein Weg nach Berlin. Da stehen wunderbare Sätze drin mit Saft und Kraft. Brandt hätte nie Familien von Kriegsflüchtlingen auseinandergerissen wie die unterirdischen Kumpel heute.