Kommentar 10 Jahre Wikileaks: Sensationsgeil und verkaufstüchtig
Der Wikileaks-Geburtstag hätte ein Grund zum Feiern sein können. Doch die Seite ist zum Witz verkommen, wie sich am Beispiel der Türkei zeigt.
D rei Tage nach dem Putschversuch in der Türkei, bei dem 290 Menschen getötet und über 2.000 verletzt wurden, feierten die Menschen auf den Straßen den Sieg der Demokratie. Für uns Journalisten dagegen war die Sache längst nicht so klar. Was passierte in jener Nacht? Wer steckte dahinter? Und: Wem war noch zu trauen?
Da kam die Ankündigung von Wikileaks gerade recht: Über 100.000 Dokumente über die türkischen Machtstrukturen wolle man veröffentlichen. „Macht euch bereit zu kämpfen“, heißt es darin. Kämpfen? Warum eine solche Rhetorik in dieser angespannten Lage? Wir wunderten uns. Aber was wir am meisten suchten, waren Antworten.
Wir setzten also all unsere Hoffnung in diese Veröffentlichung. Und wurden bitter enttäuscht. Die vermeintlichen Leaks entpuppten sich als Nebelkerze: Spam-Mails statt großer Enthüllungen, massenweise geleakte persönliche Daten. Mit dem Putsch hatten sie erst recht nichts zu tun. Offenbar hatte man schon eine ganze Weile auf diesen Dokumenten gesessen und nun eine gute Gelegenheit gesehen, sie medienwirksam zu veröffentlichen. Ohne Rücksicht darauf, welche Erwartungen geweckt würden.
Wie konnte Wikileaks sich das anmaßen? Offenbar hat die Plattform das Bewusstsein dafür verloren, wofür sie einst gegründet wurde – und das in einem so bedeutungsvollen Moment. Wikileaks stand einst für eine neue Form der Recherche. An irgendeiner Stelle muss aber der Hype zu groß geworden sein.
Dabei bräuchte die Plattform diese Sensationslust gar nicht, wenn sie wieder mehr Wert auf Substanz in ihren Veröffentlichungen legen würde. Sie darf sich nicht an der Aufregung messen lassen, die ihre Ankündigungen hervorrufen – sondern muss sich daran messen lassen, ob sie ihre Versprechen erfüllt.
ist Reporter der türkischen Cumhuriyet. Er ist derzeit Gastredakteur der taz.
Wir türkischen Journalisten dürften nicht die Einzigen bleiben, die Wikileaks frustriert und desillusioniert. Die Pressekonferenz am Dienstag, bei der raunend weitere Veröffentlichungen über Hillary Clinton angekündigt, aber nicht geliefert wurden, spiegelt diese neue Verkaufskultur wider.
Zehn Jahre Wikileaks hätten für uns eigentlich ein Grund zum Feiern sein können. Doch die Plattform ist zum Witz verkommen. Wenn ich an die politische Situation in meiner Heimat denke, kann ich darüber nicht lachen.
(Übersetzung aus dem Englischen: Johanna Roth)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland