Kolumne Sternenflimmern: „Europable“, das Gefühl für Europa
Vielen fehlen Emotionen für Europa. Um sie zu entwickeln, könnte ein neues Wort dafür helfen. Vorschläge sind willkommen.
B leiben wir noch einen Tag bei Gefühlen. An eben dieser Stelle schrieb meine Kollegin Lin Hierse gestern von fehlenden. Gefühle für Europa haben weder sie, noch andere, die sie gefragt hat. Bei mir ist es genauso. Also habe ich darüber nachgedacht, wie sich das ändern könnte.
Ich bin 28 Jahre alt, lese Zeitung viel lieber gedruckt als am Bildschirm, gucke am Sonntagmittag gerne „Presseclub“ und mag After Eight. Mit dieser geistigen Nähe zum Renteneintrittsalter erkläre ich es mir auch, dass ich sie in den vergangenen anderthalb Jahren vermisst habe, die Wahlwerbespots im Fernsehen. Brotendstücktrocken angekündigt, distanzversichernd, glamourlos bis zum Gehtnichtmehr. So auch am vergangenen Samstag, zwischen, na klar, heute journal und Sportstudio.
Aber dann: Die „Europäische Partei LIEBE“ (EPL) plädiert fast stöhnend für mehr Liebe in der Europäischen Union. Natürlich habe ich erst einmal gelacht. Dann gegoogelt: „Die Liebe ist stärker als das Böse und der Hass, die Liebe muss die Welt regieren!“ steht im Programm.
Grenzüberwindendes Gefühl
Als ich fertig war damit, mich darüber lustig zu machen, ist mir aber klar geworden, was ich eigentlich schon weiß: dass Liebe das größte grenzüberwindende Gefühl ist, das es gibt. Dass sie sich, da bin ich wirklich sicher, überall auf der Welt gleich anfühlt, also auch in jedem Teil Europas. Ähnliches gilt womöglich für Trauer, Sehsucht oder Mut – doch resultieren diese Empfindungen nicht wiederum alle aus der Liebe? Und wäre es nicht geradezu phänomenal, wenn wir aus der Liebe auch ein europäisches Gefühl speisen könnten? Wenn wir also keine Gefühle für Europa haben, und das scheint ja gesichert, liegt es dann nicht nahe, so ein Gefühl zu erfinden?
Sodass meine Prager Brieffreundin (ja, Brieffreundin, siehe oben) ganz genau weiß, was ich meine, wenn ich ihr schreibe, dass ich mich momentan, sagen wir, produktiv, motiviert und europäisch fühle?
Wobei: Für eine solche Empfindung müssen wir ein tatsächlich neues Wort finden, weil sich auch international tätige CEOs wahrscheinlich sehr oft sehr europäisch fühlen, wenn sie europäisches Geld machen. „Eunig“ – eine Mischung aus EUropa und eiNIG – vielleicht? Mh, Englisch müsste es, trotz Brexit, wohl schon sein. Europable, „Europe“ und „lovable“ kombiniert? Das ginge vielleicht. Weitere Vorschläge sind willkommen, die Idee steht ja noch ganz am Anfang. Und was genau wollen wir damit dann ausdrücken? Eine aus Liebe entstandene Form der Zuneigung, so viel steht fest. Alles weitere: erst mal unwichtig.
Dieses Gefühl kann auch als Platzhalter dienen, bis wir wirklich Gefühle haben. Es kann etwas Diffuses sein, und wenn ich sage, ich fühle mich europable, dann verstehst du, wie ich mich fühle: hingezogen zu Europa und noch irgendwie mehr. Wie du es auch verstehst, wenn ich erzähle, ich bin verliebt. Das ist vielleicht unromantisch, aber: Um Gefühle zu entwickeln, brauchen sie manchmal einfach nur einen Namen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links