Kolumne Konservativ: Conveniencefood fürs Hirn

Was ist „Gesunder Menschenverstand“? AfD-Chef Bernd Lucke weiß es genau.

Mit kurzen Draht zum „Gesunden Menschenverstand“: Bernd Lucke Bild: dpa

Es gibt nichts Besseres, als früh morgens ein TV-Interview mit Bernd Lucke zu sehen. Zumindest um herauszufinden, dass man das so bald nicht wieder tun möchte.

Letzte Woche, ZDF-„Morgenmagazin“. Ich sitze todmüde vorm Fernseher, Lucke hellwach darin. Der AfD-Chef sagt: „Wir verorten uns überhaupt nicht in diesem Rechts-links-Schema. Wir sind eine Partei des gesunden Menschenverstands. Wir wollen unideologisch und pragmatisch Politik machen.“

Ich setze mir zwei Ziele: Ich möchte verstehen, worin „gesunder Menschenverstand“ besteht. Und ich will wieder mehr Radio hören.

Lucke spricht oft vom „gesunden Menschenverstand“. Aber was ist das? Laut Historischem Wörterbuch der Philosophie ist er ein Nachfahre von „koine aisthesis“. Aristoteles bezeichnete damit den inneren Sitz im Herzen, der die Informationen der Einzelsinne zusammenfasst und beurteilt. Verwandt mit dem englischen „common sense“ und dem deutschen „Gemeinsinn“. Aber sieht sich die AfD tatsächlich ausgerechnet in der Denktradition eines Griechen?

Ein säkularisierter Heiliger Geist

Umgangssprachlich heißt es, der gesunde Menschenverstand „sagt einem“ dies und das. Merkwürdig. Der Verstand zeichnet sich doch dadurch aus, dass er Argumente und Fakten abwägt und daraus Schlussfolgerungen zieht. Der gesunde Menschenverstand aber scheint bereits vorgefertigte Botschaften zu vermitteln. Eine Art Conveniencefood fürs Hirn. Wer definiert, was eine Instant Message vom gesunden Menschenverstand ist? Diejenigen, die behaupten, sie seien für ihn empfänglich. So gesehen ist er ein säkularisierter Heiliger Geist.

Ihn können natürlich nicht allein AfDler empfangen. Gibt man die Wortkombination in der Google-News-Suche ein, spuckt diese ein Zitat aus dem Ukraine-Konflikt aus: „Ich hoffe, dass sich der gesunde Menschenverstand durchsetzen wird. Und dass weder wir noch unsere Partner unter den gegenseitigen Strafmaßnahmen zu leiden haben.“ Scheint ein unideologischer, pragmatischer Mann zu sein, dieser Putin.

Wenn es gesunden Menschenverstand gibt, was ist sein Gegenteil? Kranker Menschenverstand? Gemeinhin gilt, wer sein Verhalten von inneren Stimmen leiten lässt, als psychisch krank. Ist der gesunde Menschenverstand krank? Ich brauchte mehr Kaffee.

Ich kam zum Schluss, dass es sich bei der Inanspruchnahme des gesunden Menschenverstands um den Versuch handelt, den eigenen Ansichten eine feste Form zu geben. Linke haben eine Utopie, wie eine gute Gesellschaft aussehen könnte. Oder sie tun zumindest so. Konservative wollen bewahren, was sie in der Gesellschaft als gut erachten. Gut und schlecht aber sind wie die Gesellschaft selbst: stetig im Wandel. Bei der Unterscheidung hilft der gesunde Menschenverstand: scheinbar fest umrissen, tatsächlich aber extrem volatil.

Das Nachdenken hätte ich mir sparen können. Als ich das Interview noch einmal sah, merkte ich, dass Lucke die Antwort selbst gegeben hat: „Wir vertreten die Inhalte, die wir für richtig halten. Ganz einfach deshalb, weil sie richtig sind.“

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Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wird von der Kritik gefeiert.

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