Kolumne Geht’s noch?: Zu viel Müll im Beutel
Plastiktüten vermeiden ist der neue Volkssport der Ökos. Wer nachhaltig handeln will, muss sein Konsumverhalten aber radikaler umstellen.
P lastiktüte! Das Wort wirkt ähnlich wie „Erdbeereis“ auf einem Kindergeburtstag. Wer es ausspricht, hat die Aufmerksamkeit aller. Letzteres ist lecker, Erstere bisweilen gefährlich. Plastikmüll tötet Schildkröten, Wale und Vögel; zerrieben zu kleinsten Partikeln, findet er sich in Menschen, Honig, Fischen – mit weitgehend unbekannten Folgen. Zudem bildet der preisgünstige Erdölrohstoff die Grundlage für einen Massenkonsum, der den Planeten überstrapaziert. Der vielzitierte „nachhaltige Umgang mit Plastik“ ist also ein Thema, dem wir uns stellen müssen.
Allerdings nicht, indem wir jedeN BundesbürgerIn zu einem Crashkurs in Verpackungslehre samt Offenlegung der verwendeten Verpackungsmaterialien nötigen. Es scheint ja nur eine Frage der Zeit zu sein, dass jedeR jährlich die Zahl der verwendeten Hemdchenbeutel oder Plastiktüten mit einer Wandstärke von unter 50 Mikrometern bei einer Beutelbehörde angeben muss und die Benutzung von Einmalplastiktellern als Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen wird.
Diese Hysterie führt zu surrealen Situationen: Die Verkäuferin bei H&M schiebt der Kundin einen Berg von unter höchstwahrscheinlich äußerst miesen Bedingungen und hohem Ressourcenaufwand produzierten Textilien über den Ladentisch und sagt dann streng: „Geht ohne Tüte, oder?“
Und die Besucherin im Mediamarkt – drei Stockwerke Elektroschrott von morgen – kann sich ihres nachhaltigen Betragens sicher sein, obwohl sie mit ihrem Einkauf zur unwiederbringlichen Feinverteilung knapper Metalle beiträgt, deren Gewinnung Giftschlamm produziert und Energie verschlungen hat. Den Milchschäumer mit Sensor für unterschiedliche Schaumtexturen trägt sie ja im mitgebrachten Stoffbeutel nach Hause.
Der hat zwar, wenn er nicht Dutzende Male benutzt wird, keine bessere Ökobilanz als eine Plastiktüte. Genauso wie eine Papiertüte keine Alternative zum Hemdchenbeutel darstellt, schon gar nicht, wenn sie aus frischen Fasern besteht. Das Publikum war da schon mal weiter und ahnte, dass es nicht sinnvoll sein kann, einen jahrzehntelang gewachsenen Baum zu einem Gegenstand zu schreddern, der nach einmaliger Nutzung im Müll landet und womöglich nicht einmal recycelt werden kann, weil er feucht ist, dreckig oder mit dem falschen Kunststoff überzogen.
Nein, wir müssen keine Tütchen zählen, sondern auf Konsum verzichten. Das klingt eher nach Möhrenschnitz als nach Erdbeereis. Ist gesünder, will aber keiner.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein