Kolumne Die eine Frage: Was wird aus Özdemir?
In der richtigen Welt würde Robert Habeck jetzt Partei- und Cem Özdemir Fraktionsvorsitzender. Bei den Grünen nicht.
I n der richtigen Welt wäre jetzt völlig klar, dass Robert Habeck Parteivorsitzender wird und Cem Özdemir Fraktionsvorsitzender. Zwar haben sich die Grünen bei den Sondierungen als zukunftsbereite Partei inszeniert, die fähig ist, für die zentralen Politikfelder Sozialökologie, Europa und liberale Gesellschaft tragfähige Kompromisse mit Andersdenkenden zu schließen, aber im Ergebnis ist man wohl die kleinste Partei in der Opposition. Also die Besten nach vorn?
Schleswig-Holsteins Vizeministerpräsident Habeck ist Herz und Hirn eines anschlussfähigen Politikwechsels mit sozialökologischer Perspektive, Spitzenkandidat Özdemir für weite Teile der nicht grün wählenden Leute (und das sind nun mal die meisten) ein Staatsmann, der ihr Vertrauen hat. Oder schlicht der einzige Bundesgrüne, den sie überhaupt kennen.
Wie will man der mediengesellschaftlichen Irrelevanz entkommen und gleichzeitig eine anschlussfähige politische Gestaltungsperspektive anbieten, wenn man nicht die zwei Geeignetsten nach vorn stellt und als Kern eines neuen strategisch-operativen Zentrums begreift? Selbst wenn man mit Grünen redet, die das genauso sehen, erzählen sie stundenlang, warum das nicht geht.
Die Grünen-Weltlogik
Also Habeck, okay, da werde man sich mit ihm hoffentlich so einigen, dass es die Statuten nur dehnt, aber nicht verletzt. Und, klar, Özdemir sei landauf, landab der beliebteste Bundesgrüne. Aber das gehe ja wegen der diversen Quotierungen nicht und wegen der machtstrategischen Züge, die andere innerhalb der Grünen-Weltlogik ziemlich perfekt gemacht haben. Konkret: Das Bündnis der derzeitigen Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt (Frau, realagrün) und Anton Hofreiter (Mann, linksgrün) sichert beide ab – und Bienenkönigin Göring-Eckardt ist nach jetzigem Stand so eisern, dass der als Realomann etikettierte Özdemir nicht gewählt werden kann.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Warum das mit Habeck nicht längst geklärt ist; warum das bekannteste Gesicht in die dritte Reihe rücken und der Rest einfach weitermachen soll: ein normaler Mensch kann das alles unmöglich verstehen. Aber das tut nichts zu Sache. Die Grünen sind schon wieder vollauf damit beschäftigt, die Zentrifugalkräfte in der eigenen kleinen Welt auszubalancieren. Das war das zweite Leitmotiv des jüngsten Parteitags neben der perspektivlosen Selbstbegeisterung. Das Auseinanderdriften, die Konzentration auf das Eigentliche, nämlich das Eigene, das sich in dem rhetorischen Beschwören der neuen Harmonie verbergen wollte und genau dadurch offenbarte. Die einen brauchen ihren Dogmatismus, den sie ironischerweise als Fortschrittstradition pflegen, damit ihre kleine Welt nicht aus den Fugen gerät. Und die anderen haben sich abgefunden. Oder täusche ich mich?
Wenn man beim Grünen-Parteitag zuhört, dann ist man mal in der kleinen Grünen-Welt selbstgerechter Hohepriester der Dogmatik und eines merkwürdigen ethischen Überlegenheitsanspruchs, aber dann auch wieder in der realen Welt komplexer politischer Kompromisse. Die Aufgabe ist nicht, sich „treu“ zu bleiben, sondern eine neue sozialliberalökologische Antwort zu suchen auf die radikalen Veränderungen der deutschen und europäischen Gesellschaft, die Marginalisierung der nur noch eingeschränkt funktionierenden Volksparteien und die eigene Niederlagenserie. Robert Habeck macht mit seiner Partei in Schleswig-Holstein genau das. Die ganz große Antwort gibt es übrigens auch schon, das will ich ausnahmsweise hier mal sagen. Sie kommt von Winfried Kretschmann.
Das zu ignorieren ist das eine. Aber es jetzt Cem Özdemir büßen zu lassen, das wäre wirklich lower als low.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken