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Kolumne Die eine FrageEingemauert im Stammwählerdorf

Peter Unfried
Kolumne
von Peter Unfried

Die Grünen haben in Berlin eine desaströse Niederlage erlitten. Wie schon in etlichen Landtagswahlen zuvor. Was folgt daraus für den Bund?

Der Selbstbegeisterung des Spitzenteams der Berliner Grünen sollte noch eine andere Deutung hinzugefügt werden Foto: dpa

O pposition in einem Landesparlament ertrage man auf Dauer nur mit viel Humor oder im Suff, sagte mal sinngemäß der Grüne Dieter Salomon. Er floh dann aus der Opposition, um in Freiburg zu regieren. Es ist also verständlich, dass sich die Berliner Grünen wie Bolle freuen, demnächst wohl unter der SPD endlich ein bisschen mitregieren zu dürfen. Zweifellos hat auch jeder Einzelne hart dafür gearbeitet.

Dennoch möchte ich der Selbstbegeisterung eine andere Deutung hinzufügen. Man kann diesen vierten Platz in Berlin nach einem Wischiwaschiwahlkampf auch als desaströse grüne Niederlage sehen – und als Ausdruck der ambivalenten Gesamtsituation. Die Grünen mehren ihre Regierungsbeteiligungen. Gleichzeitig verlieren sie eine Wahl nach der anderen und dabei an gesellschaftlicher Relevanz. Berlin (– 2,4) war die elfte der letzten vierzehn Wahlen, bei denen die Partei verloren hat, darunter sind Desaster wie zuletzt Brandenburg (– 3,9) und Rheinland-Pfalz (– 10,1).

Wenn man von Minizuwächsen in Brandenburg (+ 0,5) und Hamburg (+ 1,1) absieht, haben die Grünen in den letzten fünf Jahren nur bei einer Wahl in die Gesellschaft ausgegriffen. Das war im März in Baden-Württemberg: 30,4 Prozent (+ 6,1). Zur Relation: Das ist mehr, als sie bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl in Kreuzberg geholt haben.

So kann man nicht argumentieren, sagen viele Grüne: Der mit 80 Prozent Zustimmung regierende Ministerpräsident Kretschmann gilt nicht. Und der allgemeine zwischenzeitliche Aufschwung lag an der Atomkatastrophe von Fukushima. Tja, wer solche Spitzenargumente hat, braucht keine politischen Gegner mehr.

Kasten taz.am wochenende 24./25. September

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Die Demokratie ist in Gefahr. Die EU auch. Die europäische und deutsche Gesellschaft wird zunehmend gespalten, die alten Volksparteien erodieren, weil ihre Zeit vorbei ist. Zumindest mal die der SPD. Kretschmann reagiert genau darauf und stürzt die politischen Verhältnisse um. Und andere sagen: Sorry, Leute, aber wir sind nur relevant, wenn ein AKW in die Luft geht. Und das ist derzeit leider nicht der Fall.

Berlin ist politisch eine provinzielle Stadt. Aber nun hat sich gezeigt, dass gesellschaftliche Orientierung und Führung der kleinbürgerlichen SPD und der kleinstbürgerlichen CDU nicht mehr zugetraut wird. Sich in so einer Lage mit Radwegen und Toleranzzonen im Stammwählerdorf einzumauern, statt einen alternativen, moderat progressiven Führungsanspruch inhaltlich, personell und damit machtpolitisch zu formulieren, das ist – denken wir es mal altgrün – Verrat an der Welt.

Die therapeutisch ausgeklügelte Ansammlung von Spitzenkandidaten mit einer „herausgehobenen“ Ramona Pop, der vom Parteitag sicherheitshalber das Misstrauen ausgesprochen worden war, dokumentiert ein weiteres Grunddilemma: dass die Grünen keinem Grünen vertrauen. Nicht mal einer grünen Frau. Wie soll das dann sonst irgendjemand tun?

Öko-App oder Inhalt?

Den Protest gegen das Establishment haben erst die Linkspartei und jetzt die AfD übernommen. Nun stellt sich die Frage, ob die Grünen den Rekord an Regierungsbeteiligungen als mehrheitbeschaffende Öko-App mit geschlechterpolitischer Tophaltung aufstellen wollen. Oder bei der Urwahl ein inhaltliches und personelles Angebot entwickeln, bei dem es eben nicht um die Entscheidung geht: Schlüpfen wir bei Schwarz-Grün oder bei Rot-Grün-Rot unter?

Die grüne Lage im Bund ist schwieriger, als es die in Berlin gewesen wäre. Aber die Zukunft entscheidet sich nicht zwischen einer schwarzen und einer roten Alternative. Sondern in einer, die das Vakuum an Orientierung mit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ausfüllt. Im Zweifel ökosozial.

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Peter Unfried
Chefreporter der taz
Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried
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7 Kommentare

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  • Man kann den Untergang des Abendlands natürlich propagieren. Das ist ja grade nicht nur von der Meinungsfreiheit abgedeckt, sondern auch ziemlich up to date. Man muss es aber nicht.

     

    Einen "Verrat an der Welt" und eine "desaströse [...] Niederlage" zu erkennen, wo Radwege und Toleranzzonen immerhin eine rot-rot-grüne Stadtregierung machbar scheinen lassen, finde ich etwas übertrieben. Aber für mich sind Dörfer ja auch keine Schreckensbilder. Mitunter sind sie sogar Sehnsuchtsorte.

     

    Wenn unsere Demokratie tatsächlich "in Gefahr" ist, dann nicht, weil die Berliner Grünen eine "therapeutisch ausgeklügelte Ansammlung von Spitzenkandidaten" ins Rattenrennen geschickt und "einer 'herausgehobenen' Ramona Pop [...] sicherheitshalber das Misstrauen ausgesprochen" haben. Gefährlich sind eher Leute, die im Namen ihrer ganz privaten Weltrettungsidee eine Alleinherrschaft anstreben, die unmündige Bürger durch kritikloses Vertrauen möglich mache sollen.

     

    Wieso, zum Henker, sollten Grüne ausgerechnet Frauen trauen? Weil sie die "süßen Mäuse" sind, die manche Patriarchen zu erkennen meinen? Angela Merkel ist auch eine Frau. Das macht sie nicht zu einem besseren Menschen.

     

    Vielleicht wäre es besser gewesen, Dieter Salomon hätte sich dem Alkohol ergeben. Nach Freiburg zu flüchten, wo er den Zumutungen des Oppositionsdaseins nicht mit Humor begegnen muss, sondern vom Thron des Landesherrn herab den Stinkefinger zeigen kann, ist auf die Dauer sicher kontraproduktiv. Einen "alternativen, moderat progressiven Führungsanspruch inhaltlich, personell und damit machtpolitisch zu formulieren", wird Salomon da, wo er grade ist, vermutlich ganz genau so wenig glücken, wie es dem Lieblingssuperhelden des Kretschmann-Groupies Unfried glücken wird.

     

    Wer mit 80 Prozent regiert, kann nicht zukunftsfähig sein. Dazu ist die Angst vor allem Neuen schon (wieder) zu weit verbreitet und zu stark. Berechtigt, wie ich sagen muss. Im Zweifel ökosozial? Das wär' schön!

  • Die Grünen haben in Berlin ihr zweitbestes Ergebnis ihrer Geschichte in dieser Stadt eingefahren, Daraus eine "desaströse" Niederlage zu konstruieren, ist schon sehr gewagt.

    • @Hans aus Jena:

      "zweitbestes" So kann man es auch interpretieren. Nur ist das einfach nur Politsprech um nicht zugeben zu müssen, dass es schlecht gelaufen ist.

       

      Man könnte aber auch sagen, und dass ist nun mal die korrekte Interpretation. Sie konnten weniger Wähler mit ihrem Programm erreichen.

  • Das Problem der Grünen ist schon seit langer Zeit, dass sie nicht wissen, ob sie konservativ oder progressiv sind - also ob sie nach hinten oder nach vorne aus der Scheiße raus wollen. Deshalb hängt das völlig von einzelnen Personen ab, was nicht nur das Profil versaut, sondern auch zu ständigen inneren Reibungsverlusten führt, weil da in unzähligen Detailfragen Leute gegen- anstatt miteinander arbeiten.

     

    Das müsste mal geklärt werden, denn "Natur" allein ist keine Antwort auf politische Fragen, insofern Gesellschaft nämlich keine Natur, sondern Kultur, also künstlich ist. Das Selbstverständnis der Grünen ist in der Erkenntnis eines durchaus zentralen politischen Problems steckengeblieben, Antworten auf dieses Problem sind dann quasi Privatsache von grünen Politikern und das geht so nicht. Das ist dann keine Partei, das ist bestenfalls ein Verein.

    • @Mustardman:

      Das Problem der Grünen ist nicht, dass sie sich nicht entscheiden können. Natürlich wollen sie "nach vorne aus der Scheiße raus". Nur steht da die Gesellschaft vor der Tür und rührt sich keinen Millimeter.

       

      Wer sich als Schwarzer grün anstreichen lässt, kann hierzulande mit 80% regieren. Wer sich als Grüner gegen das Schwarz-angemalt-Werden wehrt, kommt nicht einmal als Juniorpartner in die Koalitionstüte.

       

      Die Masse ist komplett paralysiert. Vom Tellerwäscher bis zum Millionär starrt alles, wie's Karnickel auf die Schlange, auf das, was so an Schrecklichem passiert derzeit. Entlassungs- oder Missbrauchswellen, Krieg oder Seuche, der IS, die sogenannte Flüchtlingsflut, gestiegene Diebstahls-Zahlen in bundesdeutschen Zügen und Bahnhöfen, Politiker, die unter Röcke greifen - der ganze blöde Mist, der täglich in der Zeitung steht, weil Panik sich nun mal bezahlt macht, gerinnt in den Köpfen der Leute zu einem giftig-grauen, schweren Klumpen Amalgam. Da Zeug lässt sie um Rettung beten – zu Götzen, die mit Brutalität zu punkten versprechen.

       

      Abschottung, Ausgrenzung, Kompromisslosigkeit, Ignoranz – alles, was im alltäglichen Leben nicht mehr funktioniert, soll in der Politik den Durchbruch bringen. "Im Zweifel für die Macht!", sagen sich denn auch die Grünen, deswegen sieht es aus, als wüssten sie nicht, was sie wollen. Das Spitzenpersonal hat einen Job zu machen. Dafür wird es gewählt. Dass dieser Job so zeitgemäß ist wie, zum Beispiel, der des Gaslaternenanzünders, des Milchmädchens oder des Schmuckeremiten, ist den meisten Wählerinnen ganz egal. Den Gewählten aber ist es völlig wurscht. Sie werden ja (zu gut) bezahlt und auch hofiert dafür, dass sie von vorvorgestern sind.

    • @Mustardman:

      Ich denke, die Funktionäre der Grünen wissen das sehr wohl. Sie sagen es nur den Wählern nicht. Denn abgesehen vom Südwesten sind die Wähler der Grünen - im Gegensatz zu den Funktionären - nach wie vor eher links.

  • Die große Zahl der Regierungsbeteiligungen der grünen spricht erstmal für deren "Machtgeilheit". Politisch haben sie ausser dem Dosenpfand seit Jahren nichts mehr wegweisendes produziert. Der Veggieday ist da noch in Erinnerung. Und sonst?

    Agenda 2010 und andere soziale Umwälzungen verantwortet die SPD, Die Energiewende kommt durch die CDU, Frauenpolitik eher ein SPD-Thema, nachhaltige Kriegsverweigerung wurde von Schröder und Westerwelle betrieben usw.

    Stattdessen Protest gegen Stuttgart21, der trotzdem gebaut wird ...

    Die Grüne werden in Ihrer Machtgier schneller entzaubert als seinerzeit die FDP ...