Kolumne Besser: Warum ich in Istanbul bin
Die Proteste in der Türkei vereinen Bänker, Anarchisten und Feministinnen. Das ist schöner und demokratischer als der Bürokratenverein namens EU.
K olumnen sind subjektiv, sonst sind sie keine. Um subjektiv zu sein, muss man nicht unbedingt „ich“ schreiben. Die Kolumne „Besser“ etwa ist bislang ohne dieses Wort ausgekommen und wird es inschallah künftig wieder tun. Nur diesmal geht es nicht anders.
Es ist Dienstagnachmittag, ich sitze auf einer Dachterrasse im Istanbuler Bezirk Beyoğlu, mit einer wunderschönen Aussicht auf das Goldene Horn und die Minarette der Altstadt. Vor mir verläuft der Tarlabaşı-Boulevard, eine mehrspurige Verkehrsschneise, die vom Goldenen Horn, einem Seitenarm des Bosporus, hoch zum Taksimplatz führt. Jenseits dieser Straße liegt das alte Werftenviertel Kasımpaşa, in dem der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aufgewachsen ist.
Schon am Sonntagnachmittag hatte ich mich mit einer deutschen und einer türkischen Kollegin hierher zurückgezogen, um über die Auseinandersetzungen mit der Polizei zu schreiben. Es war der Tag nach der Räumung des Gezi-Parks; der Tag, an dem tausende Menschen versuchten, zum Taksimpatz durchzukommen.
ist Redakteur der taz.
Ich sah von hier aus, wie vielleicht 1.000 Leute mit einer bewundernswerten Ausdauer stundenlang versuchten, dieses Areal zwischen einer Seitengasse der Einkaufsstraße Istiklal und dem Tarlabaşı-Boulevard zu halten. Immer wieder wurden sie mit Pfeffergas attackiert. Solange sie konnten, taten sie nichts weiter, als die Gaskartuschen zurückzuwerfen und einfach stehen zu bleiben. Der Wind trieb die Gasschwaden bis zur Terrasse hoch, es war meine Ladung Gas für diesen Tag.
AKP-Anhänger auf Menschenjagd
Ich sah von hier aus, wie die Demonstranten einige Male von mit Knüppeln bewaffneten Männern, die nicht alle Uniform trugen, vertrieben wurden. Ich sah, wie ein Polizeifahrzeug auf vier Leute zuraste, die auf dem Bordstein saßen, und ein Polizist aus drei Metern Entfernung ein Gummigeschoss auf eine Frau abfeuerte.
Schließlich sah ich, wie eine Gruppe von AKP-Anhängern mit Knüppeln in den Händen aus Richtung Kasımpaşa auf den Boulevard kam und vor den Augen der Polizei auf Menschenjagd ging.
Jetzt sitze ich wieder hier und frage mich: Warum bin ich hier? Meine Antwort: Ich wollte herkommen, weil ich zu Beginn des Aufstands gegen die Erdogan-Regierung das Gefühl hatte, das mein Platz gerade nicht in Berlin ist, sondern hier in Istanbul.
Ähnlich erging es anderen Almanci-Kolleginnen, die ich hier getroffen habe. Niemand hat auf einen Auftrag gewartet, wir haben uns alle mehr oder minder selbst beauftragt. Wenn wir uns um kleine Jungs kümmern müssen, denen ein Stück Pimmel abgeschnitten wird, soll die Redaktion uns das hier gefälligst ebenfalls ermöglichen – und zwar nicht wegen irgendwelcher Storys, die wir liefern können.
Mein Herz ist dort
“Şimdi Istanbul‘da olmak vardı anasını satayım“, „Verdammt, jetzt müsste man in Istanbul sein“, heißt es in einem Exilantenschlager aus den Achtzigern. Verdammt, jetzt müsste man in Istanbul sei – dieses Gefühl hatten in den vergangenen Wochen fast alle meine Almanci-Freunde. (Möge mir keiner erzählen, dass Sie irgendwen kennen, der jemanden kennt, der es nicht mit jungen Leuten vom Gezi-Park hält, sondern mit der AKP; ich spreche hier von meinen Freunden).
Nur die wenigsten hatten das Glück, als Journalisten beruflich nach Istanbul reisen zu können. In den letzten Tagen bin ich immer wieder Almancis begegnet, die sich eigens Urlaub genommen haben, um herzukommen.
Und die, die dies nicht konnten, haben in den vergangenen Tagen viel Zeit damit verbracht, an Informationen heranzukommen; sie haben demonstriert, Protestbriefe unterzeichnet, alles mögliche getan, um sich mit der Aufstandsbewegung in der Türkei zu solidarisieren. Mein Herz ist dort.
Esprit der Demonstranten imponiert
Warum sie das fühlen, habe ich die Almancis unter meinen Facebook-Freunden gefragt. Alle sind von dem Esprit und der Kreativität dieser Bewegung beeindruckt, ihrem Mut und ihrer Ausdauer. Den meisten imponiert es, wie in dieser Bewegung erstmals unterschiedlichste politische Strömungen zusammengefunden haben.
Manche glauben, dass es darum geht, die Republik gegen Islamisierungstendenzen zu verteidigen, andere erkennen in dieser Bewegung das Potenzial, eine dritte Kraft zwischen Kemalismus und politischem Islam zu entfalten. Und manche sehen den Kampf, den die Leute in der Türkei führen, in Zusammenhang mit den Protesten in Brasilien oder Deutschland gegen Gentrifizierung.
Das ist Politik. Aber es geht auch um Gefühle. Für uns Almanci ist die Türkei nicht irgendein Land. Es ist das Land, dessen Sprache wir (mehr oder weniger) fließend sprechen, in dem wir Freunde und Verwandte haben; ein Land, das wir mögen oder dessen Umgangsformen, Musik, was auch immer. Fragen Sie einen Almanci Ihrer Wahl und Sie werden zwar jedes Mal eine andere Begründung hören, aber stets dasselbe Fazit: Das ist für mich ein besonderes Land.
Ich glaube, dank der Çapulcus haben wir unsere emotionale Bindung zur Türkei politisiert. Wir können uns zur Türkei, zu diesem Teil der Türkei bekennen, ohne uns von irgendwelchen Sarrazins nach unser „Integrationsbereitschaft“ ausfragen lassen zu müssen. Wir können uns mit den Menschen hier solidarisieren, ohne uns mit den Urlaubserinnerungen irgendwelcher gutmeinender Deutschen befassen zu müssen.
Bunter und demokratischer als EU
Wir können über die Türkei reden, ohne uns mit diesem ganzen EU-Schwachsinn beschäftigen zu müssen, also ohne den Kartoffeln das Gefühl zu geben: Wir wollen so werden wie ihr. Denn für einen kurzen Moment haben die Menschen vom Gezi-Park etwas wahr werden lassen, dass schöner, bunter, lustiger und demokratischer ist als dieser Bürokratenverein namens Europäische Union.
Fast alle von uns haben Freunde und Bekannte, die in den vergangenen Tagen und Wochen in Istanbul, Ankara, Izmir, Dersim, Adana oder anderswo auf der Straße waren. Mit ihnen fühlen wir mit, wir sorgen uns um sie, wir sind angetan von dem, was sie tun, wir sind vielleicht auch ein bisschen stolz auf sie.
Von Stolz hat mir übrigens keiner geschrieben. Dafür meinten einige, dass sie die türkischen Fahnen auf den Solidaritätsdemos in Deutschland stören würden. Ich verstehe das gut, das wäre mir noch vor ein paar Wochen genauso ergangen. Das ist die Fahne, um die türkischen Nationalisten so ein Bohei machen, das ist die Fahne, die sie in den neunziger Jahren in kurdischen Dörfern in den Boden rammten, deren Bevölkerung sie vertrieben hatten.
Doch rund um den Gezi-Park habe ich gesehen, dass dieselbe Fahne neben kurdischen Fahnen wehte, neben dem Rot der Sozialisten, dem Schwarz der Anarchisten, dem Lila der Feministinnen, dem Grün der Ökos, der Regenbogenfahne der Homos, zwischen den Bänkern, Ärzten und Studenten, die vielleicht keine dieser Fahnen die ihre nennen würden und trotzdem da waren.
Ich habe gesehen, wie über eine Barrikade, die ohnehin eher eine symbolische denn eine praktische Funktion hat, eine große türkische Fahne gespannt war. Nun denke ich: Wenn die türkische Fahne also hierfür stehen kann, dann soll sie eben Himmelherrgott als eine von vielen dabei sein.
Besser: Ich bin hier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus