Körpererkundung von Kindern: „Sexualität ist Thema für die Kita“
Ein Raum für Doktorspiele in einer Hannoveraner Kita sorgt für Aufregung. Die Sexualpädagogin Meline Götz erklärt, was daran gut sein könnte.
taz: Frau Götz, brauchen Kindertagesstätten Extraräume, in denen Kinder allein oder gegenseitig ihre Körper erkunden können?
Meline Götz: Nein, aber Kitas brauchen grundsätzlich Rückzugsräume. Die können dann auch zum Ort werden, in dem sie ihrer Neugier nachgehen. Kinder sind zwischen drei und sechs Jahren sehr an Körpern anderer Kinder interessiert, nicht nur, aber auch an deren Genitalien, manche sehr, manche ein bisschen oder gar nicht. Eltern können das nicht beeinflussen.
Ist die Kita der richtige Ort?
Ja, weil sie dort auf andere Kinder treffen. Die Kita sollte diese Bedürfnisse auf dem Schirm haben und sich darauf einstellen.
Wie können Erzieher:innen das begleiten?
Es ist wichtig, die Kinder nicht zu stören, aber sie natürlich nicht komplett sich selbst zu überlassen. Und es ist wichtig, mit ihnen Regeln zu besprechen, die eingehalten werden müssen.
Welche?
Jedes Kind macht nur mit, wenn es sich wohl dabei fühlt und kann jederzeit aufhören. Es werden aufgrund des Verletzungsrisikos keine Gegenstände, Genitalien oder Finger in Körperöffnungen eingeführt. Erwachsene und Jugendliche haben nichts bei diesen Spielen zu suchen. Hilfe holen ist kein Petzen. Und der Altersunterschied darf nicht zu groß sein.
Warum nicht?
Weil es ein Machtgefälle gibt, übrigens auch bei Gleichaltrigen. Das dreijährige Kind ist vielleicht beeindruckt vom Sechsjährigen und macht deshalb mit. Und ein Dreijähriges kann sich verbal noch nicht so gut ausdrücken und sagen, was es möchte und was nicht. Als Erwachsene muss ich sicherstellen, dass das für alle Kinder in einem freiwilligen und positiven Rahmen passiert. Wenn nicht, muss ich eingreifen. Das heißt, wenn ich mitbekomme, dass gerade Erkundungsspiele stattfinden, kann ich mich ruhig versichern, ob es allen gut geht.
Aber ist das nicht auch etwas, bei dem die Kinder einfach mal ungestört sein wollen?
Absolut! Deshalb sitze ich ja als Erzieherin auch nicht dabei. Ich kann aber einfach mal lauschen, was so erzählt wird in der Höhle.
Es gibt Kinder, die sich nicht zurückziehen.
Ja, es gibt Kinder, die stolz von der Toilette kommen und sagen, wir haben Penis und Vulva angeschaut. Kinder sind da relativ unbefangen, auch weil sie keinen Unterschied zwischen den Körperteilen machen, die Hand unterscheidet sich nicht groß von der Vulva. Die Wertigkeit geben wir Erwachsene rein.
Wobei es ja nicht verkehrt ist, Kindern beizubringen, dass sie ihre Geschlechtsteile nicht in der Öffentlichkeit zeigen.
Als Körpererkundungsraum sollte ein Ruheraum künftig auch fungieren, hatte eine AWO-Kita in Hannover angekündigt. Darin sollten Kinder nackt sein dürfen und ihrer Neugier freien Lauf lassen, so lange sie sich dabei an Regeln halten.
Die angeschriebenen Eltern reagierten verstört und beschwerten sich beim Landesjugendamt. Das Amt stoppte das Konzept, auch der Träger distanzierte sich, sprach von einem Alleingang des Kita-Leiters. Weil die Bild-Zeitung von dem Vorgang Wind bekam, gab es bundesweite Aufregung.
Klar. Das gehört dazu, mit den Kindern zu besprechen. Wo passt das und wo nicht, was sind geeignete Orte.
Aber wären Körpererkundungen zu Hause nicht besser aufgehoben, weil es dort weniger trubelig zugeht?
Zu Hause ist es auch super, aber manche Kinder haben dort nicht die Möglichkeit. Und es ist ein Thema für die Kita, weil das Körpererleben genau so zur Entwicklung dazugehört wie Sprachförderung oder Motorikschulung. Es gibt Studien, die deutlich zeigen: Kinder, die gut aufgeklärt sind, ein gutes Körperbewusstsein und sexuelle Bildung erfahren haben, haben später ein besseres Verhütungsverhalten. Und Kinder lernen soziale Regeln, dass es zum Beispiel nicht okay ist, sich mit Gewalt oder Lügen durchzusetzen. Auch in der Sexualität gibt es Regeln. Wenn dieser Teil ausgeklammert wird, lerne ich nicht, adäquat damit umzugehen.
Schützt das auch vor sexualisierter Gewalt?
Man darf Kindern nicht die Verantwortung dafür übertragen, sich vor Übergriffen zu schützen, das müssen Erwachsene sicherstellen. Aber grundsätzlich ist ein transparenter Umgang mit Sexualität der beste Schutz vor sexualisierter Gewalt.
Ist es Sexualität, wenn Kinder ihre Körper erkunden?
Meline Götz
39, arbeitet als freiberufliche Beraterin und Sexualpädagogin in Bremen. Sie gibt unter anderem Weiterbildungsseminare zum Thema Sexualität und Behinderung.
Es ist eine kindliche Sexualität, die nichts mit erwachsener Sexualität zu tun hat. Als Pädagogin definiere ich Sexualität als ein Grundbedürfnis wie Essen, Trinken, Schlafen, das unter anderem der Regulation dient. Wir brauchen den Hautkontakt zu anderen Menschen. Man kann auch sagen, dass Sexualität ein mit vielen kleinen Kreisen gefüllter Kreis ist. Einer kann Neugier sein, einer Lust, Liebe, Körper, Beziehung, Entspannung. Bei jedem Menschen ist dieser Kreis unterschiedlich gefüllt. Und bei Kindern ist er zum großen Teil mit Neugier und Körpererfahrungen gefüllt.
Wir haben über Kita-Kinder gesprochen – was ist mit Grundschüler:innen, die oft bis 16 Uhr in der Schule sind – dort gibt es keine Rückzugsräume.
Ja, das Bedürfnis, Körper zu erforschen, verschwindet nicht, findet in dem Alter aber häufiger im Verborgenen statt. Wenn Kinder kaum noch Zeit haben, sich nachmittags zu verabreden, ist das ein Problem – ich habe aber leider keine Lösung. Umso wichtiger wäre es, mit den Kindern zu thematisieren, was gute Orte sein könnten. Ohne abzuwerten oder zu beschämen.
Lassen sich Grenzüberschreitungen immer vermeiden?
Nein, es kann immer passieren, dass ein Kind erst mitmacht und daran Freude hat und dann merkt, es geht ihm nicht mehr gut damit. Das kann auch erst im Nachhinein aufpoppen. Entscheidend ist, dass das Umfeld gut damit umgeht. Also nicht dem Kind die Schuld gibt, es habe nicht früh genug „nein“ gesagt, und es darf auch nicht hören, dass es nie wieder mitmachen darf. Es muss erleben, dass es gehört wird, dass es seinen Gefühlen trauen kann.
Wenn so etwas passiert, ist häufig Alarm und die Erwachsenen drehen durch.
Ja, dann wird das gleich ganz verboten oder Kinder werden kriminalisiert. Schule und Kita sind Orte des sozialen Lernens und manchmal passieren Grenzüberschreitungen, weil Kinder in die Rollen erst hineinwachsen und sich auch ausprobieren.
Gehört Ambivalenz nicht auch zur Sexualität dazu?
Es gibt Graubereiche. Aber auch ganz klare Übergriffigkeiten. Da gibt es nichts zu diskutieren, da muss ich auch nicht über Gefühle reden, da geht es darum zu begrenzen. Aber ohne Explosion und Kurzschlusshandlungen.
Dahinter steckt ja auch oft, dass Erwachsene Berührungsängste haben und selbst unsicher sind in ihrer Sexualität.
Genau, und das ist auch in Ordnung. Das Ziel ist nicht, dass wir alle offen und frei sind und alles supercool finden. Es geht einfach darum zu wissen, was sind meine Prägungen, welche Botschaften habe ich bekommen? Ich darf mich überfordert fühlen und mich schämen, das ist ein gesundes Gefühl. Es geht darum, das Thema nicht wegzuschieben oder abzuwerten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“