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Koalition in ÖsterreichGrüne in der Moria-Falle

Ralf Leonhard
Kommentar von Ralf Leonhard

Die Koalition mit der ÖVP von Kanzler Kurz treibt Österreichs Grüne in eine Identitätskrise. Das zeigt sich vor allem in der Flüchtlingspolitik.

Wien, am 11. September: Demonstration für die Aufnahme von Geflüchteten aus Moria Foto: Herbert Pfarrhofer/picture alliance

G anze 100 Kinder aus Moria. Soll man eine symbolische Anzahl unbegleiteter Minderjähriger aus dem griechischen Flüchtlingslager aufnehmen oder nicht? An dieser Frage schärfen die Koalitionspartner ÖVP und Grüne derzeit ihr Profil.

Die Grünen appellieren an das Gewissen und fordern eine humanitäre Geste. Von Gewissen spricht auch Kanzler Sebastian Kurz, der bei der ÖVP die Linie vorgibt: Er könne die Aufnahme von Flüchtlingen nicht mit seinem christlichen Gewissen vereinbaren. In seiner Logik würde die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitglieder nur dazu führen, dass sich das geleerte Lager auf Lesbos sofort mit neuen Asylsuchenden füllen würde. Man würde also nur weiteren Menschen Hoffnung machen, dass sie in Europa eine Zukunft haben, und damit das Geschäft der skrupellosen Schlepper befördern.

Nicht alle in der ÖVP denken so. Immerhin war die Österreichische Volkspartei ursprünglich die Heimat katholischer Bauern, konservativer Wirtschaftstreibender und aufgeklärter Bürgerlicher. Seit Sebastian Kurz das Erfolgsrezept entdeckt hat, der rechten FPÖ das Wasser abzugraben, indem sie deren dumpfe Parolen etwas netter umformuliert, sind diese bürgerlichen Stimmen großteils verstummt. Und die Umfragen bestätigen, dass der harte Kurs gegen Flüchtlinge bei der Bevölkerung ankommt.

Die ÖVP liegt seit Monaten solide drei bis fünf Prozentpunkte über ihrem Ergebnis bei den Nationalratswahlen vor einem Jahr. Deswegen haben es die Grünen auch aufgegeben, weitere Appelle an den Koalitionspartner ergehen zu lassen. Vor den Wahlen in Wien vom 11. Oktober, bei denen die ÖVP ihren Stimmenanteil auf Kosten der durch Ibiza und Spendenskandale geschwächten FPÖ verdoppeln will, ist mit einem Abgehen von den „Grenzen dicht“-Parolen nicht zu rechnen.

Kein Herz für Geflüchtete

Da kann der Künstler André Heller noch so eindringlich an den „Sozialrevolutionär Jesus Christus“ erinnern und aus dem Evangelium zitieren, „was ihr dem geringsten meiner Brüder getan, das habt ihr mir getan“, um das katholische Herz des Kanzlers zu erweichen. Da hilft es nichts, dass ÖVP-Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sich bereit erklären, Flüchtlingsfamilien aufzunehmen und selbst die katholische Bischofskonferenz an die Regierung appelliert, Nächstenliebe gegenüber den Geflüchteten zu üben.

In Österreich wagt es fast niemand, die Verteilung der mehr als 12.000 in Lesbos gestrandeten Flüchtlinge zu fordern. Es ist immer nur von Kindern, vorzugsweise solchen ohne Begleitung, zu reden. Von der völkerrechtlichen Verpflichtung, Asylsuchende vor Krieg oder Verfolgung zu schützen oder dem menschenrechtlichen Gebot, entrechteten Menschen ihre Würde zurückzugeben, ist nicht die Rede. In der Annahme, die ablehnende Stimmung im Land könne man nur mit dem Leiden unschuldiger Kinder umdrehen, haben die Proponenten einer Aufnahme den Menschenrechtsdiskurs weitgehend aufgegeben.

Aber auch der Appell ans Herz greift nicht mehr. Eine ÖVP-Innenministerin hatte einst noch Empörung hervorgerufen, als sie versicherte, sie würde sich von den Rehleinaugen einer 15-jährigen Schülerin, die vor der drohenden Abschiebung untergetaucht war, nicht beeindrucken lassen. Das Abfackeln des Lagers Moria durch verzweifelte Bewohner liefert jetzt auch das wohlfeile Argument, dass man Gewalttäter nicht belohnen wolle.

Natürlich hat der Kanzler auch recht, wenn er sagt, einem derzeit unbegleiteten Kind würden bald Verwandte folgen. Aber was spricht dagegen, eine Familie statt eines Waisenkindes aufzunehmen? Und der Pull-Effekt ist unter Migrationsforschern äußerst umstritten. Die meisten halten den Push-Effekt, der Menschen aus ihrer Heimat vertreibt, für weit mächtiger.

Die Grünen erfahren in der Regierungsarbeit jeden Tag schmerzlich, was es heißt, einem fast dreimal so starken Koalitionspartner ausgeliefert zu sein. In den Regierungsverhandlungen hat sich Kurz sogar eine Klausel ausbedungen, die es ihm erlauben würde, sich in der Migrationsfrage andere Mehrheiten zu suchen, wenn es keine Einigkeit geben sollte. In der Praxis heißt das: Wenn ihr nicht willig seid, dann holen wir uns die FPÖ. Die Grünen müssen sich immer wieder von den Oppositionsparteien SPÖ und Neos provozieren lassen, wenn diese wortwörtlich aus dem Parteiprogramm der Grünen übernommene Passagen zur Abstimmung bringen und dann die Abgeordneten der Ökos verhöhnen, wenn diese aus Koalitionsdisziplin dagegen stimmen müssen.

Immer mehr Basis-Grüne fordern den Bruch der Koalition, um die ständige Selbstverleugnung zu beenden

Das bleibt nicht ohne Folgen an der grünen Basis, die zusehends erodiert. Hatte die grüne Regierungsbeteiligung anfangs eine zurückhaltende Euphorie ausgelöst, so macht sich jetzt Ernüchterung breit. Sechs Monate lang hatte das nüchterne Management der Coronakrise durch Gesundheitsminister Rudolf Anschober den Grünen steigende Umfragewerte beschert, so liegen sie jetzt nur mehr beim Wahlergebnis von 14 Prozent. Die zeitweise hinter ihnen rangierende SPÖ hat sich erholt und selbst die FPÖ droht wieder an ihnen vorbeizuziehen.

Immer mehr Basis-Grüne fordern den Bruch der Koalition, der die ständige Selbstverleugnung beenden soll. Das will von den Regierungsmitgliedern und Abgeordneten niemand. Sie verweisen wohl zu Recht darauf, dass die ÖVP ohne Wimpernzucken wieder die FPÖ ins Boot holen und eine noch unmenschlichere Politik durchziehen würde.

Um den Koalitionspartner bei Laune zu halten, hat die ÖVP zumindest den Auslandskatastrophenfonds von 25 auf 50 Millionen Euro verdoppelt und gleich eine Lieferung von 55 Tonnen Hilfsgütern wie beheizbare Zelte für ein neues Lager nach Athen gebracht. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) ließ es sich nicht nehmen, den Flug selbst zu begleiten und die in eine rot-weiß-rote Flagge gehüllten Zelte und Decken zu übergeben. Von Inszenierung versteht man was in der ÖVP.

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Ralf Leonhard
Auslandskorrespondent Österreich
*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.
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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Soviel zum Segen von Schwarz-Grün. Will allen Ernstes noch jemand mehr davon ? Vielleicht auch in D ?

    • @Nicolai Nikitin:

      Sehr gerne. SOllen die Grünen sich auf die Umwelt konzentieren. Das ist ihre Stärke. Und dies machen sie in Österreich wohl auch sehr gut.

  • Keine Ahnung, wie viel Geld die österreichischen Kirchen haben.

    In Deutschland kommen die Vermögenswerte beider Kirchen zusammen auf über eine Billion Euro. Das ist mehr als der Börsenwert aller Dax-Firmen zusammen.

    Wenn hier schon von christlichem Gewissen die Rede ist, sollte das berücksichtigt werden.

    Auch geht es nicht um Moral oder kurzfristige Gesinnungsethik sondern darum Herz und Verstand zusammen zu bringen. So etwas nennt man dann Handlungsethik.

    Handlungsethik heißt, mittel- oder langfristig mit den vorhandenen Mitteln möglichst effizient möglichst viel Leid zu vermeiden.

    Der kluge Kanzler Kurz ist Handlungsethiker.

    Die sog. Identitätskrise der österreichischen Grünen ist selbstverschuldet. Vielleicht sollten sie ihre eigenen Positionen noch mal überarbeiten? Diese klingen wahrhaftig nicht überzeugend.

    Artikelzitat: "Natürlich hat der Kanzler auch recht, wenn er sagt, einem derzeit unbegleiteten Kind würden bald Verwandte folgen. Aber was spricht dagegen, eine Familie statt eines Waisenkindes aufzunehmen?"

    Kosten, Risiken und Nebenwirkungen?

    Die im übrigen vorwiegend von der armen Bevölkerung getragen werden, die mit Zuwanderern in Konkurrenz um Lohn, Jobs, Miete, Wohnungen und Sozialleistungen stehen.

    In Österreich wie in Deutschland.

    Da beanspruchen Leute die Gralshüter von Gewissen, Moral, christlichem Gewissen, Nächstenliebe und so weiter und so fort zu sein, doch in Wahrheit lassen sie andere dafür bezahlen.

    Dünkt mich schon längst als ziemlich bigottes Gerede. Nein danke.

    Lerne zusätzlich: "Vor allem aus wirtschaftlichen Gründen denkt in den meisten afrikanischen Ländern ein erheblicher Teil der Bevölkerung ans Auswandern. Laut einer Befragung von Afrobarometer erwägen durchschnittlich fast vier von zehn Einwohnern eine Emigration."

    Und jetzt ein kleines bisschen rechnen. Danke, Herr Leonhard.

    www.faz.net/aktuel...dern-16113117.html

  • Wenn sich "Ernüchterung breit macht", dann wohl auch deshalb, weil von der geplanten und im Koalitionsvertrag wenigtsens für den Strombereich recht fest vereinbarten Energiewende noch wenig zu sehen ist. Geschuldet ist ein linearer Ausbau der erneuerbaren Energien, um 2030 (oder war es 2035??) den gesamten Strom damit zu erzeugen. Dazu müssten bereits dieses Jahr beträchtliche Solarkapazitäten aufgebaut werden, dem einzigen Energieträger, wo das recht schnell möglich (gewesen) wäre. Stattdessen gab es meines Wissens weder eine Gesetzesänderung noch Ausschreibungen dafür, schon gar keine Realisierungen.

    Aus Sicht von Kurz wäre es natürlich ideal, wenn sich die Ösi-Grünen darüber intern streiten würden, er hat natürlich kein Befriedungsinteresse, und mehr noch, wenn sich die Grünen dann scheinbar aus anderen Grund gegen die Koalition entscheiden, in Wahrheit aber, weil das Fass übergelaufen ist.

  • Warum rein grünes Dilemma? Solange in der Opposition kann man vielen fordern, auch uneingeschränkte Zuwanderung und die Aufnahme aller Flüchtlinge. Sobald in Verantwortung und echter Abwägung der verschiedenen Interessen sieht das schon anders aus, hinter verschlossenen Türen wird zudem noch ganz anders geredet. Was soll’s: Schweden macht es uns doch vor: nach Jahren scheinbar grenzenloser Aufnahme erfolgte zunächst - unter grünen Tränen - die komplette Abriegelung und mittlerweile werden die Migranten für allerlei Probleme verantwortlich gemacht. Die Gesellschaft erzwingt quasi den politischen Wandel, da hilft auch kein links-grünes Ideal, wenn es an der Wirklichkeit scheitert. Kurz hat doch recht, sobald das Lager auf Lesbos geleert, ist es auch schon wieder gefüllt und alles geht von neuem los ... und die Post-Corona-Gesellschaft wird sich ihrer begrenzten Solidaritätsbereitschaft so langsam bewusst. Aber da geht es ja erstmal nur um Kranke & Alte.

  • "Das bleibt nicht ohne Folgen an der grünen Basis, die zusehends erodiert."

    ein argument mehr gegen eine schwarz-grüne koalition in deutschland-wo das gleiche geschehen würde.



    aber ob das die basis der grünen partei versteht.?die parteispitze versteht es sicher nicht.die basis der grünen partei -also die gesamtheit ihrer einfachen parteimitglieder ist im durchschitt deutlich älter und weniger progressiv als ihre wähler*innen.vielleicht kann sie es aber trotzdem verstehen



    dann müsste sie zweierlei tun

    1.rechtzeitig vor den bundestagswahlen per mitgliederentscheid eine koalition mit den unionsparteien ausschliessen



    2.dem transatlantischen militarismus eine klare absage erteilen,wie es die linke fordert damit rot "rot" grün nicht an deren unverhandelbaren veto gegen kriegsbeteiligungen,waffenexporte und aufrüstung scheitert